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Heinrich Böll – Hansasaal

Heinrich und Annemarie Böll mit Sohn Raimund und Oberbürgermeister Theo Burauen im Hansasaal, 29.12.1972, Titelseite der Kölner Bürgerillustrierten, H. 3, 1972.

Am 29. Dezember 1972 ehrte die Stadt Köln Heinrich Böll mit einem Empfang im Hansasaal des Historischen Rathauses. Anlass der Ehrung, die mit einem Eintrag Bölls ins Goldene Buch der Stadt einherging, war die Verleihung des Nobelpreises für Literatur, den der Preisträger wenige Tage zuvor am 10. Dezember in Stockholm überreicht bekam. Die Preisverleihung nahm erstmals der schwedische Kronprinz Carl Gustav vor, der seinen Vater, den erkrankten König Gustav VI. Adolf, vertrat. – Am 9. März des Jahres war dieser noch zu Besuch in der Domstadt. – Heinrich Böll wurde in Stockholm für seine Verdienste zur Erneuerung der deutschen Literatur ausgezeichnet, er war nach Hermann Hesse der zweite deutsche Schriftsteller, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dieser Auszeichnung bedacht wurde.

Der Hansasaal bildet das repräsentative Zentrum des Historischen Rathauses, er ist der größte (30 Meter lang, 7,60 Meter breit, 9,58 Meter hoch an der höchsten Stelle) und prächtigste Saal des gesamten Rathausensembles, der für feierliche Zeremonien, den Empfang von Staatsoberhäuptern, Königen und Königinnen oder Ordensverleihungen an verdienstvolle Kölner und Kölnerinnen genutzt wird. Ursprünglich war der Saal, der im 14. Jahrhundert erbaut wurde, die Tagungsstätte der Hanse, später diente er auch als Gerichtssaal. In der Nachkriegszeit musste der Raum aufwendig in seiner hochgotischen Form wiederhergestellt werden, da der Saal im Zweiten Weltkrieg fast völlig ausbrannte.

9 gute Helden, Historisches Rathaus Köln, v.l.n.r.: Karl der Große, König Artus, Gottfried von Bouillon, Josua, David, Judas Makkabäus, Julius Caesar, Hektor, Alexander der Große © Foto: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0

Außergewöhnlich und beeindruckend ist vor allem die Innenausstattung des Hansasaals. An der südlichen Stirnwand befinden sich die »Neun guten Helden«, sie zählen zum wertvollsten Interieur des Rathauses und stammen aus der Zeit zwischen 1320 und 1330. Die Steinfiguren symbolisieren die drei Zeitalter der Heilsgeschichte des Augustinus und zeigen von links nach rechts: die Christen Karl der Große, König Artus, Gottfried von Bouillon, die Juden Josua, David, Judas Makkabäus sowie die Heiden Julius Caesar, Hektor und Alexander der Große. Die an der Nordseite angebrachten acht Prophetenfiguren aus Eichenholz stammen aus der Zeit um 1410, sie zierten früher die angrenzende Prophetenkammer.

Kölnisch um 1414, Acht Propheten, Eichenholz, Höhe 113-117 cm, Historisches Rathaus © Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln

Neben dem Hansasaal bilden weitere Gebäudeelemente, die teilweise miteinander verbunden sind, den Kölner Rathauskomplex. Er besteht aus dem um 1330 errichteten Kernbau mit Walmdach, dem von 1407 bis 1414 angebauten Rathausturm, den die Kölner Zünfte als Zeichen ihrer Stadtherrschaft errichten ließen, und einer vorgelagerten Renaissance-Laube. In einem später angegliederten Verwaltungsakt befinden sich Repräsentations- und Diensträumen der Oberbürgermeisterin beziehungsweise des Oberbürgermeisters. Die Piazzetta, ein 900 Quadratmeter großer und 12,60 Meter hoher Freiraum bildet die Mitte des Gebäudeensembles. Unter dem markanten schwebenden Kunstwerk Baldachin (1980) von Hann Trier finden in der Piazzetta überwiegend Veranstaltungen statt.

Beim Empfang zu Ehren Bölls im Dezember 1972, ging es erwartungsgemäß feierlich und gediegen zu. Der damalige Oberbürgermeister der Stadt Köln, Theo Burauen, hielt eine Laudatio auf den Preisträger, in der er Böll als Mensch bezeichnete, der »kein Freund von pathetischen Auftritten sei, dem überhaupt Äußerlichkeiten und Gepränge mißfielen«. Desweiteren hob Burauen hervor, dass Böll »ein heilsamer Mahner aus bitterer Liebe zum Menschen« sei und bat ihn am Ende seiner Rede, sich ins Goldene Buch der Stadt Köln einzutragen, um »die Namen Köln und Böll in einem Buch zu vereinen«. 

Goldenes Buch der Stadt Köln, Bd. 3, Historisches Archiv Köln. Signatur: HAStK Best. 7550, U 1833

In seiner Dankesrede, wie aus den Berichterstattungen in der Lokalpresse zu entnehmen ist, gestand der Literaturnobelpreisträger eine ›Straftat‹, die in die unmittelbare Nachkriegszeit zu datieren ist. Demnach fand Böll vor fast dreißig Jahren zwischen den Trümmern des zerstörten Rathauses den Fuß von einer der beschädigten Ratsherrnfiguren aus dem Hansasaal. Anstatt das ›Ratsherrnfüßchen‹ ordnungsgemäß bei der Stadt abzugeben, nahm Böll es mit und benutzte es fortan als Manuskriptbeschwerer. Bei einem seiner zahlreichen Umzüge habe er es im Verlauf der Jahre wohl dann irgendwann verloren. Nach diesem Geständnis ging man zum gemütlichen Teil des Abends über: serviert wurden traditionell Kölsch und kalte Platten, es wurde geplaudert und Böll ließ sich von Stadtkonservator Dr. Fried Mühlberg die Besonderheiten der Wandfiguren im Hansasaal erklären. Ein gelungener Empfang!

Im Dezember 2022 jährte sich zum fünfzigsten Mal die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Heinrich Böll. Aus diesem Anlass lud Oberbürgermeisterin Henriette Reker zu einer Veranstaltung des Heinrich-Böll-Archivs der Stadtbibliothek Köln in Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung Berlin, der Erbengemeinschaft Heinrich Böll, dem Verlag Kiepenheuer & Witsch und dem dem Kulturradio WDR 3 in die Piazetta des Historischen Rathauses ein. Es diskutieren die Verlegerin Kerstin Gleba (Kiepenheuer & Witsch), die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, der Schriftsteller Thomas von Steinaecker und der Rundfunkautor Terry Albrecht über die Wirkung, die Heinrich Bölls Literatur und sein gesellschaftliches Engagement damals hatte und welche Bedeutung ihm heute noch zukommt. Die Moderation hatte die Literaturkritikerin Sandra Kegel.

v.l.n.r.: Terry Albrecht, Kerstin Gleba, Sandra Kegel, Katja Lange-Müller, Thomas von Steinaecker, 24.11.2022, Piazetta Historisches Rathaus © Foto: Max Grönert

Die Berliner Autorin Katja Lange-Müller sprach an diesem Abend über das erzählerische Werk Heinrich Bölls. Einige Aspekte ihrer Ausführungen fasste sie in einem kurzen Text zusammen, den sie dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat.

– © GE, 2023

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Heinrich Böll – Oberlandesgericht Köln

Oberlandesgericht Köln, 2012. © Foto: Reinhardhauke, CC BY-SA 3.0

Das Justizgebäude am Reichenspergerplatz wurde von 1907 bis 1911 im neubarocken Stil errichtet und war damals das größte Gerichtsgebäude in Preußen. Das neue, palastartige Gerichtsgebäude kostete 5,6 Millionen Mark und wurde am 7. Oktober 1911 seiner Bestimmung übergeben. Zur Zeit der Einweihung war das Gerichtsgebäude das größte in Deutschland mit 34 Sitzungssälen, 400 Geschäftszimmern, mit einer imposanten Eingangshalle und Fluren von mehr als 4 km Gesamtlänge. Dazu zählt auch eine für damalige Zeiten moderne technische Ausrüstung wie elektrisches Licht, Fernsprechsammelanlage und Aufzug. Das schlossartige Bauwerk sollte ein Symbol für die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber Königshäusern und Kirche sein. Ausdruck dafür ist auch eine Darstellung der römischen Göttin Justitia im Fries über dem Hauptportal. Die richtende Göttin der Gerechtigkeit ist dort in einem Relief ohne Augenbinde dargestellt – Ausdruck dafür, dass die Justiz zwar blind ist gegen Standesunterschiede, aber nicht blind gegenüber dem Menschen, dem sie in die Augen schaut.

Fries über dem Hauptportal des OLG Köln, Relief mit der Göttin Justitia. © Foto: CEphoto, Uwe Aranas CC BY-SA 3.0

Von 1969 bis 1982 wohnte Böll in der Hülchrather Straße ganz in der Nähe des Kölner Oberlandesgerichts. In dem 1972 veröffentlichten Essay Hülchrather Straße Nr. 7 erwähnte Böll auch das Gerichtsgebäude am Reichenspergerplatz:

»Beherrschend für das Viertel ist das große Schloß mit der weitläufigen Fassade, es zieht viele Besucher an, weil in ihm die große Dame mit den verbundenen Augen residiert; sie entscheidet über Ehen, Scheidungen, Miet- und Wohnungsstreit, Beleidigungsklagen, klärt Besitzverhältnisse. Es wäre ungerecht zu sagen, die Dame in ihrem Schloß wäre unproduktiv; eins wird ganz gewiß in ihrem Herrschaftsbereich produziert: Staub, jener besondere Staub, der sich in und auf Akten sammelt.«

Heinrich Böll: Hülchrather Str. Nr. 7

Die von Böll erwähnte »Dame mit den verbundenen Augen« ist die traditionelle Darstellung der Justitia mit Binde vor den Augen und einer Waage in der Hand. Eigentlich hätte ihm der Fries mit der Justitia ohne Augenbinde über dem Hauptportal auffallen müssen, da er in den 1970er Jahren in zahlreiche Rechtsstreitigkeiten verwickelt war. Angefangen von Schadensersatzklagen gegen den WDR im Zusammenhang mit dem Fernsehfilm Fedor M. Dostojewski, der am 10. Oktober 1972 mit einem Vergleich vor dem Oberlandesgericht Köln (OLG) endete, über eine Unterlassungsklage gegenüber dem ›ZDF-Magazin‹ Moderator Gerhard Löwenthal bis hin zu dem mit großer medialer Begleitung stattgefundenen Prozess gegen den Journalisten Matthias Walden und den ›Sender Freies Berlin‹ (SFB).

Heinrich Böll mit seinem Anwalt Hans Jürgen Prinz und seiner Schwester Gertrud Böll vor dem OLG, Februar 1975 © Foto: F.W. Holubovsky

In der Spätausgabe der Tagesschau machte Matthias Walden am 21. November 1974 mit teils falschen, teils ungenauen oder aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten Böll für ein Attentat auf den Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann mitverantwortlich. Böll verklagte Walden und den SFB daraufhin vor dem Kölner Landgericht auf die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Die Klage wurde zurückgewiesen.  Böll ging jedoch in die nächste Instanz – nicht, weil ihm an der persönlichen Auseinandersetzung mit Walden gelegen war, sondern weil er von einem Gericht klären lassen wollte, »wo die Grenzen zwischen Meinungsfreiheit und Verleumdung verlaufen«.

In zweiter Instanz sprach sich das Oberlandesgericht im Mai 1976 für eine Teilzahlung des Schmerzensgeldes aus. Nachdem dieses Urteil zwei Jahre später im Mai 1978 vom Bundesgerichtshof (BGH) aufgehoben wurde, legte Böll eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVG) mit der Begründung ein, dass es in diesem Rechtsstreit um eine Abwägung der Grundrechte des Persönlichkeitsschutzes und der Pressefreiheit ginge. Im Juli 1980 wurde das BGH-Urteil durch das BVG aufgehoben, das die Klage zur erneuten Verhandlung an den BGH zurückwies, da in diesem Fall das Grundrecht des Persönlichkeitsschutzes höher zu bewerten sei als das der Pressefreiheit. Nach sieben Jahren Rechtsstreit entschied der Bundesgerichtshof im Dezember 1981 dann zugunsten Heinrich Bölls.

Daneben schrieb Heinrich Böll auch Gutachten für angeklagte Schriftstellerkollegen. »Als Autor ist man manchmal gezwungen, Gesetzesübertretungen in Erwägung zu ziehen, um ein Kunstwerk zu schaffen.« (KStA, 10.11.1976) So verteidigte Heinrich Böll den Kölner Schriftsteller Günter Wallraff, der im Urkundenfälschungs-Prozess am 9. November 1976 im Kölner Landgericht wegen Vorlage einer falschen Steuerkarte vom Gerling-Konzern angezeigt wurde, nachdem er seine Beobachtungen in dem Buch Ihr da oben – wir da unten veröffentlicht hatte.

Seine reichlichen Erfahrungen mit der deutschen Gerichtsbarkeit finden auch Eingang in seinem oben erwähnten Essay über das »Schloß« in der die Dame mit den verbundenen Augen« residiert:

»Da findet so manche rasche Verwandlung statt, die sichtbaren Türhüter sind freundlich, die unsichtbaren Türhüter, ich nehme an, sie lächeln, nicht verächtlich, eher traurig, wohl weil sie ahnen, daß hier auf ewig Mißverständnis herrscht: Mißverständnis über die verschiedenen Arten der Wörtlichkeit, die permanent hier aufeinanderprallen, die Wörtlichkeit der Eingeweihten und Einverstandenen mit der der anderen, die nicht begreifen können und wollen, daß geschriebenes, gesprochenes Recht eine andere Wörtlichkeit hat als ihr Streben, Gerechtigkeit zu erlangen. Da wird, was klar schien, unklar, geschriebenes, gesprochenes, ausgelegtes und gedeutetes Recht hat eine andere Dimension als jener Wunsch nach Gerechtigkeit, der eine andere Selbstverständlichkeit hat, als in diesem Labyrinth sichtbar wird.«

Heinrich Böll: Hülchrather Straße, Nr. 7

– © Markus Schäfer, 2023

Markus Schäfer

Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin

Literatur
  • Siehe: Böll: Hülchrather Str., S. 79, S. 80.
  • Verhandlung vor dem Kölner Landgericht gegen Günter Wallraff am 9.11.1976. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 10.11.1976, S. 10 u.d.T.: Verbotenes ohne Strafe. Heinrich Böll sprach vor dem Landgericht als Sachverständiger.
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Poetica – Festival für Weltliteratur

Die Poetica ist ein internationales Literaturfestival, das seit 2015 jährlich in Köln stattfindet. Es wird von der Universität zu Köln in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und kulturellen Einrichtungen der Stadt Köln veranstaltet und rückt im Besonderen die Lyrik als marginalisierte Gattung der Weltliteratur in den Blickpunkt. Ein Autor bzw. eine Autorin kuratiert und moderiert das Festival und lädt zu einem Leitthema bis zu zehn prominente Dichter*innen aus aller Welt ein. Die Ausgangsidee für die Poetica war, dass Literatur ebenso Wissen formt wie die Wissenschaften und der Vergleich ästhetischer Ideen im Dialog von Dichter*innen und Wissenschaftler*innen einen hervorragenden Zugang zum Verständnis fremder Kulturen und ihrer potentiell unterschiedlichen Antworten auf zentrale Daseinsfragen ermöglicht.

Charakteristisch für die Poetica ist die Präsenz aller Autor*innen bei den Veranstaltungen der Festivalwoche sowie die Vielfalt ihrer Veranstaltungsorte und Formate, von Diskussionen in der Universität und einer Schreibwerkstatt für Studierende über Lesungen bis zur szenischen Umsetzung von Poesie im Schauspiel Köln. Die literarischen Texte werden bei allen Veranstaltungen in der jeweiligen Originalsprache durch die Autor*innen und in deutscher Sprache durch Schauspieler*innen vorgetragen. Die Moderationen erfolgen in der Regel in englischer und deutscher Sprache. Die Haupttexte und Essays dokumentiert eine Buchpublikation, die zum Auftaktabend der Poetica vorliegt. Von 2015 bis 2021 war die Poetica Teil des Internationalen Kollegs Morphomata.

Weiterführende Informationen unter: www.poetica.uni-koeln.de

Poetica I (2015)
Motto: M’illumino/d’immenso // Ich erleuchte mich/durch Unermeßliches
Kurator: Michael Krüger
  • Yeşim Ağaoğlu (Türkei)
  • Jürgen Becker (Deutschland)
  • Marcel Beyer (Deutschland)
  • John Burnside (Großbritannien)
  • Lars Gustafsson (Schweden)
  • Aleš Šteger (Slowenien)
  • Pia Tafdrup (Dänemark)
  • Yang Lian (China)
  • Adam Zagajewski (Polen)
Poetica II (2016)
Motto: Blue Notes
Kurator: Aleš Šteger
  • Jurij Andruchowytsch (Ukraine)
  • Bernardo Atxaga (Spanien)
  • Heinrich Detering (Deutschland)
  • Lavinia Greenlaw (Großbritannien)
  • Georgi Gospodinow (Bulgarien)
  • Durs Grünbein (Deutschland)
  • Navid Kermani (Deutschland)
  • Michael Krüger (Deutschland)
  • Martin Mosebach (Deutschland)
  • Paul Muldoon (USA)
  • Ilma Rakusa (Schweiz)
  • Monika Rinck (Deutschland)
  • Ana Ristović (Serbien)
  • Sjón (Island)
Poetica III (2017)
Motto: Die Seele und ihre Sprachen
Kuratorin: Monika Rinck
  • Javier Bello (Chile)
  • Michael Donhauser (Luxemburg/Österreich)
  • Nurduran Duman (Türkei)
  • Maricela Guerrero (Mexiko)
  • Gila Lustiger (Frankreich)
  • Angelika Meier (Deutschland)
  • Zeruya Shalev (Israel)
  • Eleni Sikelianos (USA)
  • Galsan Tschinag (Mongolei)
  • Stefan Weidner (Deutschland)
  • Lorenz Wilkens (Deutschland)
Poetica IV (2018)
Motto: Beyond identities
Kuratorin: Yoko Tawada
  • Jeffrey Angles (USA)
  • Bei Dao (China)
  • Anneke Brassinga (Niederlande)
  • Teju Cole (USA/Nigeria)
  • Hiromi Itō (Japan)
  • Kim Hyesoon (Südkorea)
  • Barbara Köhler (Deutschland)
  • Morten Søndergaard (Dänemark)
  • Monique Truong (USA/Vietnam)
  • Jan Wagner (Deutschland)
Poetica V (2019)
Motto: Rausch / States of Euphoria
Kurator: Aris Fioretos 
  • Mircea Cărtărescu (Rumänien)
  • Oswald Egger (Deutschland)
  • Christian Kracht (Schweiz)
  • Mara Lee (Schweden)
  • Lebogang Mashile (Südafrika)
  • Agi Mishol (Israel)
  • Marion Poschmann (Deutschland)
  • Jo Shapcott (Großbritannien)
Poetica VI (2020)
Motto: Widerstand. The Art of Resistance
Kurator: Jan Wagner 
  • Tadeusz Dąbrowski (Polen)
  • Erik Lindner (Niederlande)
  • Luljeta Lleshanaku (Albanien)
  • Agi Mishol (Israel)
  • Helen Mort (Großbritannien)
  • Herta Müller (Deutschland)
  • Sergio Raimondi (Argentinien)
  • Xi Chuan (China)
  • Serhij Zhadan (Ukraine)
Poetica VII (2021/2022)
Motto: Sounding Archives – Poesie zwischen Experiment und Dokument
Kuratorin: Uljana Wolf 
  • Swetlana Alexijewitsch (Weißrussland)
  • Ain Bailey (Großbritannien)
  • Don Mee Choi (USA)
  • Yan Jun (China)
  • Fiston Mwanza Mujila (Kongo/Österreich)
  • Carlos Soto-Román (Chile)
  • Maria Stepanova (Russland)
  • Anja Utler (Deutschland)
  • Cecilia Vicuña (USA/Chile)
  • Valzhyna Mort (Weißrussland)
Poetica VIII (2023)
Motto: Das chorische Ich – Writing in the name of
Kurator: Christian Filips
  • Daniela Danz (Deutschland)
  • Logan February (Nigeria)
  • Lionel Fogarty (Australien)
  • Kim de l’Horizon (Schweiz)
  • Kateryna Kalytko (Ukraine)
  • Els Moors (Belgien)
  • James Noël (Haiti)
  • Patti Smith (USA)
  • Sukirtharani (Indien)
  • Zheng Xiaoqiong (China)
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Heinrich Böll – Vondelstraße 28

Vondelstraße 28, Aufnahme von 1998 © Foto: Heinrich-Böll-Archiv
Visitenkarte von Viktor Böll, 1925

1896 eröffneten Viktor Böll (1870–1960) und sein Kolpingbruder Wilhelm Polls (1866–1950) am Wormser Platz 13 [heute Martin-Luther-Platz] in der Kölner Südstadt ihr »Atelier für kirchliche Kunst«. Eine Schreinerei, die für die zahlreichen Sakralbauten in und um Köln Beichtstühle, Orgelbrüstungen, Bänke und anderes kirchliches Mobiliar anfertigte – und dies dank ihres Erfolges mit bis zu sechzehn Gesellen. Die positive Auftragslage führte dazu, dass der Handwerksbetrieb expandierte und die Geschäftspartner 1898 in der Vondelstraße zwei Häuser errichten konnten. Im gemeinsamen Hinterhof der Häuser Nr. 28 und Nr. 30 firmierte ab 1902 die Schreinerei unter dem Namen »Böll & Polls – Werkstatt für Kirchenmöbel«. Nachdem sich in den Jahren seit Ende des Ersten Weltkriegs die Auftrags- und Versorgungslage verschlechterte, trennten sich die Geschäftspartner 1920 gütlich und Viktor Böll, dem die Werkstatt verblieb, führte den Betrieb als »Kunsttischlerei, Werkstätten für kirchliche Kunst« bis in die 1930er Jahre erfolgreich weiter.

In seinem 1952 publizierten Essay Über mich selbst beschrieb Heinrich Böll als eine seiner ersten Erinnerungen die Schreinerwerkstatt seines Vaters: »Holzgeruch, der Geruch von Leim, Schellack und Beize; der Anblick frischgehobelter Bretter, das Hinterhaus einer Mietskaserne, in der die Werkstatt lag«. Besonders reizvoll war für ihn das Büro der Schreinerei, das er in seinem Text Was soll aus dem Jungen bloß werden? näher beschrieb. Das »Bürohäuschen war verlockend gemütlich, ganz aus Holz, etwas zwischen Blockhaus und Baracke, es hatte schöne, solide gearbeitete Rollschränke mit Schiebetüren aus grünem Glas, in denen Beschläge und Zeichnungen lagen: neogotische Türmchen, Säulchen, Blumen, Heiligenfiguren; Entwürfe zu Beichtstühlen, Kanzeln, Altären und Kommunionbänken, Möbeln, und es gab da noch eine alte Kopierpresse aus Vorkriegszeiten, und immer noch Kartons mit Glühbirnen mit Bajonettverschlüssen, obwohl wir doch Hunderte davon im Garten der Kreuznacher Straße zerschossen hatten. Grüne Bürolampen, ein großer Tisch mit grünem Linoleum; Leimplatten, Werkzeug.«
Die Schreibmaschine des Werkstattbüros diente dem jungen Heinrich Böll zur Niederschrift seiner ersten, stilistisch noch tastenden, thematisch aber selbstgewissen Schreibversuche:

Die ersten Arbeiten stehen ganz sicher unter dem Einfluß der Dostojewski-Lektüre. Das Ambiente von Raskolnikow und Arme Leute fand ich in der Nachbarschaft, in den Mietskasernen, in denen mein Vater seine Werkstatt hatte; das ganze Milieu und Viertelmaterial, das ich aus dieser Lektüre kannte.«

Heinrich Böll: Über mich selbst


Einige der aus dieser Zeit überlieferten Typoskripte wurden auf der Rückseite der Rechnungsformulare des Betriebs geschrieben: »Viktor Böll, Köln, Kunsttischlerei, Werkstätten für kirchl. Kunst, Vondelstraße 28–30. Im Februar 1933, kurz vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, übertrug der zum damaligen Zeitpunkt 63jährige Viktor Böll die Werkstatt an Heinrich Bölls ältesten Bruder Alois (1911–1981), der sie bis zum Juli 1955 als selbständiger Schreinermeister weiterführte. Alois Böll wurde Heinrich Bölls erster Arbeitgeber als dieser Mitte September 1945 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Von Oktober 1945 bis Mai 1946 arbeitete er als Hilfsarbeiter in der Werkstatt seines Bruders. Nach dem Tode Viktor Bölls 1960 wurde das Haus in der Vondelstraße verkauft und der Erlös unter den Erben aufgeteilt.

Anlässlich des 100. Geburtstage von Heinrich Böll produzierte der WDR 2017 eine Augmented-Reality Entdeckungsreise auf den Spuren des Autors durch die Kölner Südstadt. Wolfgang Niedecken führt die Betrachter auch in die Vondelstraße.  
Böll folgen: Heinrich Böll – in der Südstadt

© Gabriele Ewenz / Markus Schäfer, 2022

Gabriele Ewenz

Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Leiterin des Heinrich-Böll-Archiv und des Literatur-in-Köln Archiv (LiK)

Markus Schäfer

Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin

Literatur

Siehe: Böll: Über mich selbst, S. 32; Was soll aus dem Jungen bloß werden?, S. 401.

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Selim Özdoğan – Mülheimer Stadtgarten

Mülheimer Stadtgarten, Wasseranlage © Willy Horsch CC BY 3.0

Die ersten Freistunden in der Schule habe ich hier verbracht, später auch die geschwänzten Stunden. Wir saßen auf den Lehnen der Parkbänke, die Füße auf der Sitzfläche und haben geredet. Es hätte nichts Schöneres geben können, das Gefühl einem Zwang entkommen zu sein gepaart mit einem Gespräch. 

Nachmittags war ich mit anderen als meinen Mitschülern im Stadtgarten, wir hingen dann auf dem Spielplatz rum, rauchten und es war wichtig die richtigen Bekanntschaften zu haben, wenn man nicht Gefahr laufen wollte in eine Prügelei zu geraten.

Die Leute, die ich aus der Schule kannte und die, mit denen ich nachmittags zusammen war, hatten kaum Berührungspunkte. Doch ich war mit den einen und mit den anderen in diesem Park und habe dort Stunden verbracht, die ich nicht missen möchte.

Mit einem Mädchen, mit dem ich später zusammen war, habe ich auch erst einige Male in diesem Park auf einer Bank gesessen und geredet. Wir haben viel geredet, ich war ganz berauscht davon.

Ein paar Jahre später, als es mir ernst war mit dem Schriftsteller werden, saß ich oft unter einer Kastanie und habe gelesen.

Worte. Wenn ich an diesen Park denke, denke ich immer auch an Worte und die Verbindungen, die sie geschaffen haben. Die Worte haben mich verbunden mit meinen Mitschülern, sie haben mich verbunden mit meinen Freunden, sie haben mich verbunden mit diesem Mädchen, das eine Stufe unter mir auf dieselbe Schule ging

Vielleicht war der Stadtgarten für ein paar Jahre der Ort, an dem ich am meisten gesprochen und zugehört habe.«

– © Selim Özdoğan, 2022


Für die Abdruckgenehmigung des bislang unpublizierten Textes danken wir dem Autor.

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Nava Ebrahimi – Wiener Weg 20

Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen
Hochhaus-Siedlung, Wiener Weg, Köln-Junkersdorf, 2022 © Foto: Martin Oehlen

»Ich habe in Köln wirklich an jeder Ecke Erinnerungen«, sagt Nava Ebrahimi im Gespräch. Sie habe »fast überall« in der Stadt gelebt. Ihre Aufzählung der Wohnadressen ist tatsächlich eindrucksvoll: in Chorweiler »in einem der Hochhäuser«, in Junkersdorf am Wiener Weg und im Univiertel »direkt an den Bahngleisen«. Als Nava Ebrahimi »zehn oder elf Jahre« alt ist, zieht die Familie in den Westerwald, was sie als »Katastrophe« bezeichnet. Nach dem Abitur in Bad Ems geht es zurück nach Köln, wo sie die Journalistenschule im Mediapark besucht, die ein paralleles Studium der Volkswirtschaftslehre vorschreibt: »Ich selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, VWL zu studieren.« Das Studium führt zu neuen Wohnungen. Erst einmal für einen Monat ins Herkules-Hochhaus an der Inneren Kanalstraße, dann in die Eintrachtstraße am Eigelstein, in die Mechternstraße beim Neptunbad, in die Vasterstraße in Neu-Ehrenfeld (»Haltestelle Iltisstraße«), in die Pfälzer Straße am Barbarossaplatz und in die Achterstraße im Severinsviertel. »Vor Chorweiler gab es vermutlich auch noch zwei, drei Adressen – aber da war ich zu klein, um mich daran erinnern zu können. Ach so, in der Moltkestraße habe ich auch einmal gewohnt.«

Die Schriftstellerin, die seit 2012 in Graz in Österreich lebt, wurde 1978 in Teheran im Iran geboren und kam im Alter von drei Jahren nach Köln. Ihr erster Roman Sechzehn Wörter (2017), ausgezeichnet mit dem Debütpreis zum Österreichischen Buchpreis und im Jahre 2022 das »Buch für die Stadt« in Köln und der Region, schildert das Leben in zwei Kulturen. Auch der nachfolgende Roman Das Paradies meines Nachbarn (2020) verbindet eine Vergangenheit im Iran mit der Gegenwart in Deutschland. Für ihre Kurzgeschichte Der Cousin wird sie 2021 mit dem Bachmannpreis in Klagenfurt geehrt. 

Hochhaus-Siedlung, Wiener Weg, Köln-Junkersdorf, 2022 © Foto: Martin Oehlen
Nava Ebrahimi beim Kölner Karneval © Foto: Nava Ebrahimi

Besonders wichtig, sagt Nava Ebrahimi, sei für sie die Kölner Wohnung am Wiener Weg 20 in Junkersdorf gewesen, weil sie damals eingeschult worden sei. »Das war eine prägende Zeit.« Warum sie die katholische Ildefons-Herwegen-Grundschule besucht habe, obwohl in demselben Gebäude auch eine staatliche Grundschule gewesen sei, habe sie bis heute nicht ganz klären können. »Das war eigentlich total schräg, weil ich die einzige Muslimin in der Klasse war«, sagt sie. »Ich hatte einen gewissen Sonderstatus, aber ich war da gerne.« Sie habe auch den Religionsunterricht mitgemacht und jeden Freitag den Schulgottesdienst in der Kirche besucht. »Ich war die einzige Schülerin, die nicht zur Kommunion gegangen ist. Aber ich habe immer aus voller Kehle die Lieder mitgesungen. Ich habe mich nie ausgegrenzt gefühlt. Vielleicht romantisiere ich das auch etwas durch die Erfahrungen im Westerwald. Aber ich habe mich in der Grundschule schon sehr wohl gefühlt. Ich habe Karneval mitgefeiert – und das war schon das Wichtigste für die Integration.« Wenn es überhaupt eine Spannung in der Klasse gegeben haben sollte, dann sei diese auf die sozialen Unterschiede zurückzuführen gewesen – die eine Hälfte kam »aus der Hochhaus-Siedlung am Wiener Weg und die andere aus den schönen alten Häusern rund um die Frankenstraße.«

Mit der Literatur sei sie erst spät in Kontakt gekommen, erzählt Nava Ebrahimi. Bücher hätten nach der Emigration aus dem Iran kaum noch eine Rolle in der bildungsnahen Familie gespielt. Zum einen hätten die Eltern »wirklich viel gearbeitet«, zum anderen sei es damals in Deutschland schwierig gewesen, an iranische Literatur zu gelangen. Dann habe sie im Alter von 12 Jahren von einer Cousine einen Band mit Erzählungen von Heinrich Böll geschenkt bekommen. »Eigentlich hatte ich vorher nur wenige Bücher gehabt – und dann gleich so etwas.« Auf diese Weise sei Heinrich Böll zu einer ihrer frühesten Leseerfahrungen geworden. In dem Band sei ihr die Erzählung An der Brücke (1950) besonders nahegegangen. Diese wird auch in ihrem Roman Sechzehn Wörter hervorgehoben. Der aus Persien stammende Dichter SAID, der 2021 in München gestorben ist, habe einmal in einem Interview gesagt, dass dies für ihn eine »persische« Geschichte sei – »und das habe ich auch so empfunden.« Persisch wirke der Böll-Text, weil er voller Andeutungen sei, vieles in der Schwebe lasse und sehr sehnsuchtsvoll angelegt sei.

Erste literarische Versuche unternahm Nava Ebrahimi mit 15, 16 Jahren. »Das waren noch Zwischenformen aus Brief und Tagebuch mit prosaischem Einschlag.« Mit 20 Jahren habe sie begonnen, Texte zu Wettbewerben einzuschicken. Das habe auch oft geklappt. Ansätze zum Debütroman Sechzehn Wörter gab es schon recht früh. Doch dabei blieb es zunächst. Ihre Erfahrung ist: »40 Seiten schreibt man schnell mal runter. Aber wenn man an den Punkt kommt, an dem man sich wirklich Gedanken über die Form und die Struktur machen muss, wenn es also richtig Arbeit macht, lässt man es dann oft liegen – zumal dann, wenn man noch einen anderen Beruf hat.« Den hatte Nava Ebrahimi in Köln: Sie war unter anderem tätig als Journalistin für die Financial Times Deutschland und die Stadtrevue. Erst nach dem Umzug nach Graz im Jahre 2012 fand sie die Zeit zum Schreiben, weil sie in Österreich anfangs »niemanden kannte, keinen Job hatte und mit dem Baby zuhause saß.«

Ein Anlass, sich auf Sechzehn Wörter einzulassen, sei ihre iranische Großmutter gewesen: »Sie ist eine wichtige Frau in meinem Leben und ein ganz, ganz ambivalenter Mensch.« Mit der Niederschrift des Romans habe sie versucht, diese Person zu fassen zu kriegen. Und dann wollte Nava Ebrahimi auch noch erzählen von einem Leben in und mit zwei Kulturen, der deutschen und der iranischen. »Ich bin immer relativ ›allein unter Weißen‹ gewesen, um den Buchtitel von Mohamed Amjahid zu zitieren. Ob auf der Grundschule in Junkersdorf oder in Bad Ems, wo ich Abitur gemacht habe, war ich meist die einzige Nicht-Weiße, die einzige Nicht-Deutsche beziehungsweise Nicht-Deutsch-Deutsche.« Ein Doppelleben in zwei Welten sei es gewesen, und sie habe nicht recht gewusst: »wohin damit.« Zwar gebe es im Literatur-Kanon Texte über ein solche existentielle Zerrissenheit, über die Erfahrung, »nicht zu wissen, wo man hingehört.« Damit habe sie sich ein Stück weit identifizieren können. »Aber die speziellen Konflikte und Widersprüche, die ich aushalten musste, habe ich nirgends repräsentiert gefunden.« So sei das Schreiben auch ein Versuch gewesen, sich mitzuteilen und zu finden. Nava Ebrahimi hat eine Weile in Hamburg gelebt. Das war noch vor dem Umzug nach Graz:

»Ich fand Hamburg toll, habe das wirklich geliebt und das ist für mich die schönste und liebenswerteste Stadt in Deutschland. Ich bin dann aber immer wieder zu Prüfungen an die Uni nach Köln gefahren – und wenn ich dann den Dom gesehen habe, ist mir das Herz aufgegangen. Obwohl ich mich so wohl in Hamburg gefühlt habe, bin ich dann doch nach Köln zurückgezogen. Es hat eben etwas gefehlt. Da habe ich gemerkt, dass ich für Köln mehr Gefühle habe als für einen anderen Ort.«

Nava Ebrahimi

Das liege daran, wiederholt Nava Ebrahimi, »dass ich in Köln an jeder Ecke Erinnerungen habe.« Spontan fällt ihr die markante Neonreklame Er trinkt, sie trinkt!  am Rudolfplatz ein, die sie als Kind, in der Straßenbahn-Linie 1 sitzend, beeindruckt habe. Nava Ebrahimi fasst zusammen: »Kein Ort kommt für mich näher an ›Heimat‹ heran als Köln.«

– © Martin Oehlen, 2022

Martin Oehlen

geb. 1955 in Kaldenkirchen, kam 1980 nach seinem Studium zum Kölner Stadt-Anzeiger. 1989 wurde er stellvertretender Leiter der Kulturredaktion; gemeinsam mit Reiner Hartmann übernahm Oehlen 1994 die Leitung des Ressorts Kultur; ab 2001 war er alleiniger Ressortleiter. Besonders verdienstvoll war sein Engagement für die Aktionen »Kultursonntag«, »Ein Buch für die Stadt« und für das monatliche »Büchermagazin« des Kölner Stadt-Anzeiger. Als Autor und Rezensent arbeitet er auch nach seiner Pensionierung (2019) für den Kölner Stadt-Anzeiger; gemeinsam mit Petra Pluwatsch betreibt Oehlen den Literaturblog Bücheratlas.

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Das erste Paradies

Über das Geburtshaus von Hilde Domin – und ihr Zuhause in Köln

Ein Gastbeitrag von Andreas Rossmann

Der Text auf der Tafel am Haus Riehler Straße 23 könnte knapper nicht sein:

Kein Wort zu viel. Dabei gibt es mehr dazu zu sagen. Viel mehr. Zu viel, als dass es auf eine Tafel passen würde.

Die Tafel wurde am 3. Dezember 2005 angebracht. Mehr als siebzig Jahre, nachdem Hilde Domin, die erst 1954 aus dem Exil, das zunächst nach Italien, später nach England und schließlich, für die letzten vierzehn Jahre, in die Dominikanische Republik führte, aus dem Haus ausgezogen war. Mehr als 95 Jahre, nachdem sie hier als Hildegard Dina Löwenstein geboren worden war. Keine drei Monate, bevor sie am 22. Februar 2006 in Heidelberg, wo sie seit 1961 lebte, verstarb. Die kleine Feier in windiger Kälte auf dem Treppenaufgang fand in ihrer Anwesenheit statt. Es war ihr letzter Besuch in Köln.

Das Anbringen der Tafel ist einer Bürgerinitiative zu verdanken, die Anregung ging von der Buchhändlerin Ingeborg Zanders (1921-2013) aus, die Hilde Domin seit 1961 freundschaftlich verbunden war. Dass inzwischen die Psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf hier residiert, passt ins Bild: In dem Haus, das an die Kindheit einer Künstlerin erinnert, ist die Wissenschaft zu Hause, deren zentrales Thema die Geschichte der Kindheit ist. Zugleich macht die Tafel auf ein Schicksal aufmerksam, wie es auch die Bewohner anderer Häuser in diesem Viertel erlitten haben; die von Gunter Demnig verlegten Stolpersteine erinnern daran.

Leser von Hilde Domin kennen diese Geschichte. Zwei Kapitel ihrer Autobiographie Von der Natur nicht vorgesehen (1974) handeln davon. Im Eingangsporträt »Mein Vater. Wie ich ihn erinnere« erzählt die Dichterin, wie sie von hier aus mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, während die Mutter sie aus der Straßenbahn (es war schon damals die Linie 16, doch die Schienen lagen noch oberirdisch), überwachte und die Risiken abschätzte; wie sie mit dem Vater, einem promovierten Juristen und angesehenen Anwalt, der am Kaiser-Wilhelm-Ring 3 seine Kanzlei hatte, wenn sie zu Fuß gingen, über seine Fälle, Theaterstücke oder ihre Schulaufgaben sprachen; wie er mit ihr sonntags das Wallraf-Richartz-Museum oder den Kunstverein besuchte oder mit ihr morgens vor der Schule zum Schwimmen ging – »erst hatte ich eine Büchse auf dem Rücken, dann einen Korkgürtel um den Bauch. Damals ging man in kleine hölzerne weißgetünchte Badeanstalten auf dem Rhein. Unsere hieß Noldes …« Hier ist die Dichterin zur Welt gekommen; von hier aus ist sie auch in die Tanzstunde gegangen, wo der zwei Jahre ältere Hans Mayer ihr Partner war; von hier aus begann sie, sich die Welt zu erschließen.

»Der Stadtteil«, so schreibt Heinrich Böll in dem Text Hülchrather Straße Nr. 7, wo – gleich um die Ecke – seine letzte Kölner Adresse war, »ist zum größten Teil nach 1890 erbaut; Zeit einer ersten Bodenspekulation; Jugendstilfassaden, die Straßennamen klingen noch nach dem Triumph, der damals erst zwanzig Jahre zurücklag und noch frisch im Ohr klang: Sedan, Wörth, Belfort, Weissenburg; eine selbstbewusste Zeit, die unerschrocken den beginnenden Jugendstil in seinen verschiedensten popularisierbaren (vulgarisierbaren) Formen aufnahm und eine bemerkenswerte Vorliebe für langhaarige Weiber entwickelte, die über Haustüren melancholisch den Eintretenden begrüßen oder mit gekonnter Tristesse Balkone stützen.« Riehler Straße, nur benannt nach dem nächstnördlichen, 1888 eingemeindeten Vorort, hebt sich erfreulich ideologiefrei davon ab.

Als die Löwensteins, eine liberale, wohlhabende, assimilierte jüdische Familie, hierherzogen, war die Neustadt gerade erst im Halbkreis um die Altstadt gelegt worden. 1881 hatte Josef Stübben mit der Planung begonnen, die 1910 abgeschlossen wurde; erst im Jahr darauf wurde das neubarocke Oberlandesgericht, damals der größte Justizpalast in Preußen, am Reichensperger Platz fertig. Die Riehler Straße hatte noch große Bäume und einen Fußgängerweg in der Mitte: Etwa auf halber Strecke vom Reichensperger zum Deutschen Platz, wie der Ebert-Platz noch hieß, lag das Haus mit der Nummer 23 im Gerichtsviertel, das im Westen von der Neusser Straße und im Osten von der Riehler Straße eingefasst wurde. Besser, standesgemäßer konnte ein Jurist damals in Köln nicht wohnen.

Schon im April 1929 verließ Hilde Domin das Elternhaus, um an der Universität Heidelberg zunächst »Jura, wie mein Vater, natürlich« zu studieren. Zum Wintersemester wechselte sie an die Universität Köln, wo sie sich für Volkswirtschaft und Soziologie einschrieb, im Herbst 1931 an die Friedrich-Wilhelm- (heute: Humboldt-)Universität nach Berlin, zum Sommer 1931 erneut nach Heidelberg, wo sie den Archäologen und Kunsthistoriker Erwin Walter Palm (1910-1988) kennenlernte, mit dem sie bereits im Herbst 1932, noch vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, nach Italien auswanderte und ihr Studium in Rom und Florenz fortsetzte und abschloss. »Ich hatte keine ›repressive‹ Kindheit, im Gegenteil«, schreibt Hilde Domin in Mein Vater.

Riehler Straße 23, Foto Ludwigs 1973 © RBA 154696

Eine recht genaue Vorstellung von der Wohnung, ihrer Größe und ihrem Grundriss, ihrer Ausstattung und ihrem Komfort, gibt ein späteres, »Meine Wohnungen – ›Mis moradas‹« überschriebenes Kapitel: »Wir wohnten im 2. Stock, und mein Bruder und ich wurden ins Erdgeschoss oder ins Hochparterre getragen, wenn Fliegeralarm war, während des Ersten Weltkriegs […]. Das Speisezimmer hatte bunteingelegte Fenster, damit man den Hinterhof und die Brandmauer nicht sah, die man vom Schlafzimmer aus doch gut kannte, und war mit Schwarzer Eiche getäfelt.«

An die großzügige Wohnung (»mit zehn oder elf Zimmern«) erinnerte sich Hilde Domin in vielen Einzelheiten und Kleinigkeiten: »Das Zimmer nach vorne, zur Riehlerstraße heraus, das durch eine fast wandbreite Schiebetür mit dem Esszimmer verbunden war, und das jetzt offensichtlich als Nähzimmer diente, war in meiner ganzen Schulzeit sicher das wichtigste für mich: Dort stand der hohe glasverkleidete Bücherschrank, ebenfalls aus schwarzer Eiche, und oben drauf eine Bronzebüste, ein Donatellokopf. Rechts war ein schmaler Seitenschrank, in dem Vater die Liköre und die Zigaretten hatte, links Mutters Schrank, in dem sie das Nähzeug und den Schlüsselkorb verwahrte, und ich weiß nicht, was sonst noch alles. […] Im Esszimmer standen riesige schwarze Möbel, aus dem Nürnberger Deutschen Museum kopiert, und darin lagen in rotem Filz die Bestecke, und die Servierbestecke, und was man damals zur Heirat geschenkt bekommen hatte und noch von Eltern und Schwiegereltern dazu erbte. Und das Rosenthalporzellan mit dem goldenen Randstreifen (oder war es Meißen), das außerordentlich modern gewesen sein muss, denn ich stelle es mir heute noch chic vor. Benutzt wurde es nur zwei- oder dreimal im Jahr, bei den förmlichen Einladungen. In diesen Schränken gab es auch die großen Keksbüchsen, was sicher alleine ein Grund war, die Schlüssel abzuziehen. Einen Teil des Silbers und des kostbaren Porzellans, wie auch der Perserteppiche, bekamen wir unsrerseits zur Hochzeit geschenkt…«

Als Hilde Domin »1954 zum erstenmal nach zweiundzwanzig Jahren wieder nach Köln kam«, fielen ihr viele Veränderungen auf: »Die Wohnung war halbiert. In den vorderen Zimmern, den ehemaligen Wohnzimmern, wohnte eine Schneiderin. Unsere Schlafzimmer und den langen Gang, auf dem wir Stelzen gelaufen und Holländer gefahren waren bei schlechtem Wetter oder Rollschuh, wie die Kinder über uns und die Kinder unter uns, schön gehallt muss es haben, und Turngeräte waren auch auf dem Gang, diesen Teil der Wohnung konnte ich nicht sehen.« Einen anschaulichen Eindruck von der repräsentativen Gediegenheit der Wohnung vermittelt ein Foto auf der Website der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft, das den breiten Gang mit Jugendstil-Kronleuchter, verzierter Holztäfelung, großem Garderobenspiegel und Salontüren mit Glasdekor zeigt.

Die alte Colonia, die Stadt, wie sie war, ist, darüber haben Heinrich Böll und andere geschrieben, in den Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs untergegangen. Nicht viel mehr als die gotische Kathedrale ist stehengeblieben. Hilde Domins Gedicht Köln, das 1964 in ihrem dritten, Hier betitelten Lyrikband erschienen ist, erinnert daran:

Köln

Ein dezidiert subjektiver Blick wird formuliert: »Die versunkene Stadt / für mich / allein / versunken.« Auch wie sich das lyrische Ich dort bewegt, »ich schwimme« umfasst beides, ohne festen Boden unter den Füßen und unsicher in der Orientierung, unterscheidet sich: »Ich schwimme / in diesen Straßen / Andere gehen.« Der Zugang ist wieder möglich, doch er hat sich verändert: »Die alten Häuser / haben neue große Türen / aus Glas.« Die Dichterin sieht sich und stellt sich auf die Seite der Opfer, solidarisiert sich mit ihnen: »Die Toten und ich.« Mit ihnen kehrt sie zurück. »Wir schwimmen / durch die neuen Türen / unserer alten Häuser.« Nur im Gedenken an die Toten lässt sich »die versunkene Stadt«, die Vergangenheit, wahrnehmen und verstehen, lassen sich »unsere(r) alten Häuser«, zu denen es neue Zugänge gibt (»durch die neuen Türen«), wieder erreichen.

Hilde Domin kann nicht unbelastet zurückkehren, auch wenn »unsere(r) alten Häuser« sich wieder öffnen (lassen) und »neue große Türen aus Glas« haben, wie sie sie am Gericht am Appellhofplatz gesehen hat. Köln ist für sie nicht Heimat und doch mehr als ein realer Ort, auch ein Erinnerungsraum. In einem Brief an ihren Verleger Klaus Piper schreibt sie 1981: »Köln ist die Stadt meiner Kindheit, in Köln kann ich noch meinen Eltern auf der Straße begegnen, in Köln spricht man Kölsch, Köln ist nicht ganz wirklich für mich, hat den Traumcharakter nie ganz verloren. Lebte ich dort, es wäre anders.« Köln ist für Hilde Domin nicht mehr Heimat, das entspräche weder ihrer Leidenserfahrung noch ihrem Selbstverständnis als Schriftstellerin. Für die »Dichterin der Rückkehr« (Hans-Georg Gadamer) ist Heimat, wie es in dem Gedicht Ars longa heißt, »immer das Wort / das heilige Wort«. In ihrer Dankesrede auf den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund 1983 sagte sie: »Der Glaube an das Wort, an die Dauer des Worts, und im besonderen an das Überstehen des deutschen Worts noch im Munde derer, denen die Zugehörigkeit zu Deutschland und zum deutschen Worte abgesprochen wurde, führt uns hier zusammen. Dies Wort war unsere Heimat, als wir keine andere hatten.« Oder knapper, in einem Gedicht für Christa Wolf: »Hand in Hand mit der Sprache / bis zuletzt.« In Gesprächen kam sie mehrfach darauf: »In irgendeiner Weise ist Köln mein Zuhause. Heimat wäre ein zu großes Wort. Die deutsche Sprache ist meine Heimat.«

Es ist Zufall, dass Hilde Domin, als sie 1954, nach zweiundzwanzig Jahren, wieder nach Köln kam, einen Teil der Wohnung nicht wiedersehen und einen anderen Teil nicht wiedererkennen konnte: »Diese drei Zimmer zur Straße waren völlig verändert, auch die Stuckdecken im Jugendstil waren verschwunden, ich erinnere mich nicht mehr an das Wiedersehen mit ihnen, das im kommenden Jahr auch schon wieder zwei unvorstellbar lange Jahrzehnte zurückliegt.« Und doch ist dieser Zufall ähnlich bezeichnend wie der Umstand, dass hier heute eine Wissenschaft wohnt, deren Therapieverfahren bei frühkindlichen Prägungen und Erlebnissen der Jugend ansetzen.

Hilde Domin hatte in der Riehler Straße 23 eine, so schildert sie es selbst, schöne, behütete und glückliche Kindheit, auch die »erschreckende Genauigkeit«, mit der sie sich an die Wohnung erinnert (»die alte verschnörkelte Türklinke«) und sie nach zweiundzwanzig Jahre Veränderungen (»Meyers Klassiker«) registriert, verweist auf eine starke emotionale Bindung. Die einzige Erfahrung, die dem widerspricht, der Fliegeralarm während des Ersten Weltkriegs, bei dessen Beginn sie fünf Jahre alt war, findet eine bemerkenswert marginale Erwähnung.

Zuhause, nicht Heimat. Den Unterschied reflektiert Hilde Domin in Das zweite Paradies, ihrem einzigen Roman (»in Segmenten«), der 1968 erschienen ist: »Das Zuhause hat einem nicht wehzutun wie ein Hexenschuss oder ein hohler Zahn. Das Zuhause ist da, und man fühlt es nicht. Wenn man es erst fühlt und betastet, wenn man es erst in die Hand nimmt wie eine zerbrechliche Kostbarkeit, die gleich hinfallen kann – die auch vielleicht schon einmal geleimt wurde –, ist es mit dem Zuhause vorbei. Es ist etwas, was man abgenommen bekommt. Wenn man Glück hat, bekommt man es wieder, aber es ist zuviel Erstaunen dabei. Man freut sich zuviel, als dass es ganz wirklich wäre. Als müsse man dauernd ‚ich atme‘ denken. Das Atmen wäre dann ein Genuss. Eine schreckliche Vorstellung. Das Trauma macht überempfindlich für die Freude. Aber es ist etwas Schizophrenes an ihr. Wie das Zuhause ist die Liebe, wenn man es zuerst begriffen hat, dass sie etwas Widerrufliches sein kann. Das erste Paradies, das zweite Paradies …«

In diesem Sinn war das Haus in der Riehler Straße 23 für Hilde Domin das Zuhause, das erste Paradies. Alle späteren Wohnungen hat sie als »Fluchtwohnungen« bezeichnet. Das Zuhause, aber nicht Heimat, das ergibt sich auch aus dem berühmten Zitat von Ernst Bloch, das als Motto vorangestellt ist: »Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«

Die Wirklichkeit hat die Verlusterfahrung, die Hilde Domin mit dem Haus ihrer Kindheit verbindet, so banal wie einprägsam ins Bild gesetzt. »Kürzlich«, so schreibt sie in »Meine Wohnungen«, »fuhr ich an dem Hause vorbei. Gerade wunderte ich mich noch, dass Böll chauffieren kann, da waren wir schon um die Ecke, und ich vermisste den Mandelbaum am Eingang. ›Ja, da steht jetzt die Mülltonne‹, sagte er sofort, denn er hatte den Mandelbaum gekannt.«

– © Andreas Rossmann, 2022

Andreas Rossmann

geb. 1952 in Karlsruhe. Von 1986 bis 2017 Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Nordrhein-Westfalen mit Sitz in Köln, seit 2018 freier Autor. Publikationen u.a.: Max-Ernst-Museum: Van den Valentyn – Architektur, SMO-Architektur, 2005; Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen, 2012; Mit dem Rücken zum Meer. Ein sizilianisches Tagebuch, 2017; Das kann nur Köln sein. Ein Glossar, 2020.

Literatur
  • Hilde Domin: Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiographisches. München 1974.
  • Der Text geht auf die Rede zurück, die Andreas Rossmann am 3. Dezember 2005, als die Tafel am Geburtshaus von Hilde Domin angebracht wurde, gehalten hat. In den Zitaten werden (die abweichende) Interpunktion und Rechtschreibung beibehalten.
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Irmgard Keuns Heimathafen – Eupener Straße 19

Ein Gastbeitrag von Michael Bienert
Irmgard Keun, Eupener Straße 19, 1955 © Foto: Peter Fischer / Historisches Archiv Stadt Köln, Best. 1401, Fo 42I, Bd. 1

»Es war grauenhaft, wie wir hier gehaust haben – es wurde immer schlimmer. Es regnete nicht, es goss durch die Decke in den armseligen Küchenraum. Möbel, Herd und Matratzen wurden eines Morgens mit Gewalt fortgeholt usw. Die Eltern schlafen augenblicklich in einem Zimmer in der Nähe. Ich schlafe in der Küche auf einem Notbett wie ein Fakir auf den nackten Sprungfedern, ohne Keile. Aber! Über Küche und Gartenzimmer ist eine Asphaltdecke gezogen worden und die Küche ist jetzt warm und trocken«, schreibt Irmgard Keun am 3. April 1946 aus ihrem kriegsbeschädigten Elternhaus in der Eupener Straße 19 an ihre Freundin Annemarie Schäfer. Sie hatte zwölf Jahre Diktatur und den Zweiten Weltkrieg überlebt. Ihr Bruder war im Feldzug gegen die Sowjetunion umgekommen, aber die Eltern waren noch da. Nun ging es darum, sich buchstäblich auf Trümmern ein neues Zuhause und eine neue Existenz aufzubauen. Ein eigenes Zimmer war da schon fast ein Luxus: »Ich habe oben ein Zimmer – früheres Arbeitszimmer von meinem Vater. Es kommt mir vor wie ein Märchen, dass aus diesen Trümmern ein Zimmer entstehen konnte – frage mich nicht, was es mich gekostet hat. In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viel Energie aufgebracht wie für dieses Zimmer. Glasfenster und Tür sind schon drin. Morgen werden Wände, Decke und Fussboden gestrichen.«

Einige Wochen später, am 30. Mai 1946, war Irmgard Keun zum ersten Mal im Kölner Studio des ›Nordwestdeutschen Rundfunks‹ eingeladen, um über ihre Zeit in der Emigration zu sprechen. Im selben Jahr druckte die Neue Berliner Illustrierte in der Sowjetzone ihren Roman Nach Mitternacht aus der Exilzeit nach. Die in der NS-Zeit verbotene und tot geglaubte Autorin war wieder da! Vor allem der Rundfunk verhalf ihr in den Westzonen zu neuer Popularität. Der Redakteur Lutz Kuessner, Leiter der Abteilung Varieté und Kabarett beim ›Nordwestdeutschen Rundfunk‹, suchte Keun in ihrer Ruine auf, weil er dringend eine Mitarbeiterin suchte, die nicht Mitglied der Nazipartei gewesen war. Küssner überredete Keun, Sketche für die Sendung Kabarett der Zeit zu schreiben. Auch bekam sie die Möglichkeit, ältere und neuere Texte selbst im Rundfunk zu lesen. Ihre zeitkritischen Glossen flossen in einen neuen Gegenwartsroman über den Kölner Alltag der ersten Nachkriegsjahre ein. Ferdinand, der Mann mit dem goldenen Herzen erschien allerdings erst nach der Währungsreform und Gründung der Bundesrepublik, ein Grund für seinen mäßigen Erfolg: Im Deutschland Adenauers und der Wirtschaftswunders mochten nur noch wenige an die Schiebereien der Trümmerjahre und Kontinuitäten zur Nazizeit erinnert werden.

Eupener Straße 19 © Foto: Michael Bienert, 2022

Das wiederaufgebaute Trümmerhaus in der Eupener Straße 19, Keuns Lebensmittelpunkt und Schreibort bis in die 1960er-Jahre, steht noch. Die Fassade ist aber bis zur Unkenntlichkeit modernisiert. Trotzdem verrät ein Spaziergang durch die Straße einiges über das Milieu, dem die Autorin entstammte. Das Elternhaus wird ursprünglich ähnlich ausgesehen haben wie die Reihenhäuser auf der anderen Straßenseite: Kleine zweistöckige Villen mit Vorgarten für wohlhabende, aber nicht schwerreiche Leute. Irmgard Keuns Vater war Geschäftsführer und Teilhaber der Cölner Benzin-Raffinerie (CBR). Das Fabrikgelände befindet sich heute noch an der Eupener Straße 144 (in dem eingangs zitierten Schreiben von 1946 als Postadresse Keuns angegeben). Der Lebensweg der Autorin war mit diesem Unternehmen eng verknüpft. Ohne die Raffinerie wäre sie nie eine bekannte Kölner Autorin geworden.

Cölner Benzin Raffinerie, Eupener Straße 144 © Foto: Michael Bienert, 2022

Denn tatsächlich war Irmgard Keun gebürtige Berlinerin, genauer: Charlottenburgerin, zur Welt gekommen in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms. 1905, in ihrem Geburtsjahr, war Charlottenburg noch eine selbständige und schwerreiche Gemeinde im Westen der Hauptstadt Berlin. Ihr Geburtshaus in der Meinekestraße 6 ist erhalten und mit einer Gedenktafel versehen. Auch die ehemalige Mädchenschule, in der sie eingeschult wurde, existiert noch. 1913 zog die Familie Keun nach Köln um, weil der Vater die Benzinraffinerie dort in Schwung bringen sollte. Seit 1920/21 lebte die Familie unweit der Fabrik in der Eupener Straße 19. Um diese Zeit beendete Irmgard Keun ihre Schullaufbahn mit der zehnten Klasse des Mädchen-Lyzeums Teschner in Köln. Erlebnisse in ihrer Schulzeit und während des Ersten Weltkriegs in Köln finden sich in ihrem Buch Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften wieder, das 1936 in einem Exilverlag erschien und zu ihren meistgelesenen zählt.

Nach der Schulzeit lernte Irmgard Keun Hauswirtschaft, Stenotypie, Schreibmaschine und Fremdsprachen, arbeitete als Stenotypistin für die ›Westdeutsche Gardinen Aktien-Gesellschaft‹ im Schwerthof und im väterlichen Betrieb. Als es der Firma nach dem Ende der Inflation besser ging, ermöglichten ihr die Eltern in der Mitte der 1920er-Jahre den Besuch der Kölner Schauspielschule, die dem Stadttheater angeschlossen war. Hier begegnete sie erstmals ihrem späteren Ehemann, dem 23 Jahre älteren Regisseur Johannes Tralow. Von 1927 bis 1929 war Keun als Schauspielerin in Hamburg und Greifswald engagiert, ohne durchschlagenden Erfolg. Danach kehrte sie nach Köln in ihr Elternhaus in der Eupener Straße zurück und entdeckte in den Jahren der Weltwirtschaftskrise das Schreiben als ihre eigentliche Berufung.

Anzeige im Vorwärts vom 18. Dezember 1932, Archiv Michael Bienert

Mit dem Manuskript ihres ersten Romans Gilgi – eine von uns, der in Köln spielt, ging Irmgard Keun 1931 nach Berlin, fand dort den richtigen Verlag und wurde schlagartig ein Star des Literaturbetriebs. Das Buch wurde 1932 verfilmt, im selben Jahr erschien Keuns zweiter Roman Das kunstseidene Mädchen. Wie in Gilgi ist die Hauptfigur Doris eine ausgebildete Stenotypistin, die nach einem glanzvolleren Leben strebt. Doris ergattert ein Engagement am Kölner Stadttheater und flieht von dort mit einem gestohlenen Pelz nach Berlin. Beide Romane wurden nach der Machtergreifung der  Nationalsozialisten im Jahr 1933 verboten, konfisziert und vernichtet. Die Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller und die Reichsschrifttumskammer blieb der Autorin verwehrt, damit hatte sie faktisch Berufsverbot. Im Oktober 1933 verließ sie Berlin und lebte danach wieder überwiegend in Köln bei ihren Eltern.

Irmgard Keun publizierte weiterhin ohne Genehmigung in Zeitungen und Zeitschriften des Dritten Reiches und wurde deswegen 1935 von der Reichsschrifttumskammer mit einer Geldstrafe belegt. Redakteure der Frankfurter Zeitung bemühten sich um Keuns Aufnahme in die Kammer, als dies endgültig scheiterte, reiste Keun am 4. Mai 1936 aus Köln ins Exil nach Ostende ab. Ein Exilverlag in Amsterdam garantierte ihr Vorschüsse, auch die Eltern unterstützten sie bei ihrer Emigration. Im Ausland veröffentlichte sie 1937 ihren Roman Nach Mitternacht, in dem sie hellsichtig die Transformation der deutschen Gesellschaft unter der NS-Diktatur beschrieb. Auch in diesem Buch ist Köln einer der Schauplätze. Die Eltern fingen die Tochter wieder auf, als sie 1940 heimlich nach Deutschland zurückkehrte. Zuvor hatten Zeitungen im In- und Ausland gemeldet, sie habe in Amsterdam Selbstmord begangen, wo Keun nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht festsaß.

Das Elternhaus in der Eupener Straße 19 war für Irmgard Keun ein Heimathafen, der ihr immer offenstand, wenn ihre Bemühungen, sich eine unabhängige Existenz aufzubauen, scheiterten. Mindestens einmal erlebte sie dort einen schweren Bombenangriff auf Köln. Im Jahr 1943 wurde das Haus schwer beschädigt. Mit ihren Eltern kam Keun bis Kriegsende in Bad Hönnigen im Hotel Gülden unter, außerdem hatte sie ein Zimmer in Bad Godesberg. 1946 begann sie damit, die Ruine in Braunsfeld wieder bewohnbar zu machen.

Seit 1951 lebte als Keun alleinerziehende Mutter, unterstützt von den Eltern und Freunden wie dem Ehepaar Böll, in der Eupener Straße 19. Wer der Vater ihrer Tochter Martina war, blieb ihr Geheimnis. Sie hatte etliche Affären, wollte aber nicht von einem Mann abhängig sein. Nach dem Tod beider Elternteile verlor sie völlig die Kontrolle über ihr Leben. Seit den 1930er-Jahren war Keun Alkoholikerin. Sie besaß eine anziehende Persönlichkeit, doch ihr Suchtverhalten war für wohlmeinende Freunde und Kollegen auf Dauer kaum zu ertragen. Auch mit Geld konnte sie nicht umgehen. So rutschte sie immer tiefer in Isolation und Schulden hinein. 1966 wurde das Haus in der Eupener Straße zwangsversteigert. Bis 1972 lebte Irmgard Keun als Psychiatriepatientin im Landeskrankenhaus Bonn, weil es niemanden sonst gab, der sie hätte aufnehmen können oder wollen. In dieser Zeit wurde sie von einer jüngeren Generation als bedeutende Autorin der Weimarer Republik und des Exils wiederentdeckt. Irmgard Keun durfte die Klinik verlassen und zu einer Freundin ziehen, ab 1975 lebte sie in einer eigenen kleinen Wohnung in der Breiten Straße 115 in Bonn. Dort hängt mittlerweile eine Gedenktafel, anders als an ihrer letzten Adresse in Köln. Von 1977 bis zu ihrem Tod 1982 lebte sie im Haus Baden, Trajanstraße 10, ein paar Schritte entfernt vom alten Universitätsgebäude in der Claudiusstraße 1. Davor ist Irmgards Keuns Name in eine Gehwegplatte gemeißelt, neben den Namen anderer Autorinnen und Autoren, deren Bücher am 17. Mai 1933 an dieser Stelle verbrannt wurden.

– © Michael Bienert, 2022

Literatur
  • Irmgard Keun: Man lebt von einem Tag zum andern. Briefe 1935-1948. Hg. v. Michael Bienert. Berlin 2021, S. 112f.
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Loppa vom Spiegel –Buchkünstlerin und Nonne

Skizzenbuch des Justus. Vinckeboons, Seite 62: Sankt Klara und Römerturm, um 1670. Kölnisches Stadtmuseum, Graphische Sammlung, Köln © Foto: Rheinisches Bildarchiv, rba_d036942_04

Ein Hotspot der mittelalterlichen Buchkunst in Köln war das Klarissenkloster St. Klara – und Loppa vom Spiegel war sein hellster Stern. Jedenfalls ist sie die prominenteste Buchkünstlerin des Skriptoriums, das im 14. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte.

Das Klarissenkloster zählte um 1350 zu den elf Frauenklöstern der Stadt. Es befand sich auf dem Areal, das heute von den Straßen Zeughausstraße und Auf dem Berlich umfasst und von der Straße Am Römerturm durchschnitten wird. Das Kloster war eine Stiftung von Richardis von Geldern und ihren Söhnen aus dem Jahre 1297 und wurde 1306 geweiht. Rund 500 Jahre später, nämlich im Jahre 1802, wurden Kloster und Kirche im Rahmen der Säkularisation aufgelöst und nach und nach abgerissen. Der gotische Klarenaltar mit eingebautem Tabernakel, ein Prunkstück der einstigen Klosterkirche, befindet sich seit 1809 im Kölner Dom. Weitere Schätze konnten für die Kölner Museen gesichert werden. Im ehemaligen Gewölbe des Klosters befindet sich der Sancta Clara Keller, in dem zuweilen Veranstaltungen stattfinden. Dass der einstige Eckturm der römischen Stadtmauer gut erhalten ist, wird auf einer Gedenktafel dem Kloster zugeschrieben, das ihn als Abort nutzte.

Sancta Clara Keller, Köln, Am Römerturm 3 © Kaspar Kraemer, Foto: Stefan Schilling

Die exakten Lebensdaten der Loppa vom Spiegel (Loppa de Speculo) sind nicht überliefert. Sie wurde vermutlich zu Beginn des 14. Jahrhunderts in eine Kölner Patrizierfamilie geboren. Loppas Vater war demnach Heinrich van me Spegel, der dem Kölner Rat angehörte und auch als Bürgermeister tätig war. Das Klarissenkloster, dem sie sich anschloss, nahm zumal Frauen aus begüterten Häusern auf. Der Orden, der vom heiligen Franziskus und der heiligen Klara gegründet worden war, verlangte getreu dem Vorbild der Franziskaner ein frommes Leben in Klausur und Armut.  

Im Skriptorium der Klarissen wurde nicht nur für den Klostergebrauch zu Werke gegangen. Der Ruf der Schreibstube war derart gut, dass diese Auftragsarbeiten übernehmen konnte. Damit sorgten die Klarissen nicht nur für geistliche Literatur über die eigenen Klostermauern hinweg, sondern besserten auch ihre Finanzlage auf. Zu diesen bestellten Werken zählt ein Messbuch für den Kölner Domdechanten Konrad von Rennenberg und ein Graduale, ein Buch mit Messgesängen, für die Dominikanerinnen von St. Gertrud.

Der Nachweis fällt generell nicht leicht, welche mittelalterliche Handschrift von wem geschaffen wurde. War es eine Person oder war es eine arbeitsteilige Kooperation, waren es Mönche oder waren es Nonnen? Wer also zog die Linien übers Pergament und markierte solcherart den Zeilenabstand, wer schrieb die Buchstaben, wer setzte die Noten, wer entwarf die Fabeltiere, Jagdszenen, Musikanten, wer illuminierte die Initialen und das elegant ausschwingende Blattwerk?

Graduale-Seite mit Loppas Hinweis, den Text geschrieben und die Noten gesetzt zu haben © Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Graphische Sammlung, Inv. M 23, Foto Stanislaw Rusch

Im Falle der Loppa vom Spiegel kommt uns die Nonne selbst zu Hilfe. In einem Antiphonar, das die Gesänge für die Stundengebete festhält, steht am Fuße einer Seite in Rot geschrieben, dass sie praktisch alle anstehenden Aufgaben von der Linierung bis zur Illumination übernommen habe. So geschehen »Anno domini MCCCL, maxima pestilentia videlicet existente« – also im Jahre 1350, als in Europa und auch in Köln die Pest aufs Schlimmste wütete.  Eine weitere Angabe in eigener Sache steht in einem Graduale, von dem nur 15 Einzelblätter überliefert sind. Dort hält Loppa vom Spiegel fest, dass sie den Text geschrieben und die Noten gesetzt habe. Von der Ausmalung ist hier also nicht die Rede. Aber vielleicht war die Nonne auch nur zu bescheiden.

Zudem gibt es indirekte Hinweise. Dazu zählen die scheinbar beiläufig platzierten Zeichen der jeweiligen Künstlerin im Skriptorium. So verwendete Loppa – allerdings nicht nur sie – eine kleine rot-weiße Scheibe mit Kreis und Punkten (ja, in den Kölner Hansefarben Rot und Weiß). Überdies erkennt das geschulte Forscherauge aller Standardisierung zum Trotz die individuelle Handschrift. Karen Straub, auf deren Katalog-Beitrag anlässlich der Ausstellung Von Frauenhand – Mittelalterliche Handschriften aus Kölner Sammlungen im Museum Schnütgen wir uns hier vor allem stützen, sagt über Loppa vom Spiegel: »Ihr Schriftbild ist sehr gleichmäßig und ausgewogen, die Buchstaben dabei leicht nach links geneigt. Kennzeichnend sind zudem etwa feine, schräge Striche über dem i und das Auslaufen der Buchstaben in nach rechts aufsteigenden zarten Strichen, sogenannten Haarstrichen.«

Schließlich ragt Loppas Buchmalerei heraus. Die Darstellungen sind für die Betrachtenden noch heute ein Quell der Freude. Einerseits ist da die sorgfältige Darstellung biblischer Themen innerhalb der Initialen. Andererseits kommen Humor und Fantasie im Rankenwerk und in den Drolerien zum Ausdruck, woraus sich ein schöner Kontrast zum Ernst der religiösen Texte ergibt. Nicht zuletzt fallen die zahlreichen Nonnenfiguren auf, die am linken Blattrand knien. Sie sind nach Auffassung von Joachim M. Plotzek ein weiteres »Erkennungszeichen« des Skriptoriums der Klarissen, in dem Loppa vom Spiegel so nachhaltig gewirkt hat.  

– © Martin Oehlen, 2022

Martin Oehlen

geb. 1955 in Kaldenkirchen, kam 1980 nach seinem Studium zum Kölner Stadt-Anzeiger. 1989 wurde er stellvertretender Leiter der Kulturredaktion; gemeinsam mit Reiner Hartmann übernahm Oehlen 1994 die Leitung des Ressorts Kultur; ab 2001 war er alleiniger Ressortleiter. Besonders verdienstvoll war sein Engagement für die Aktionen »Kultursonntag«, »Ein Buch für die Stadt« und für das monatliche »Büchermagazin« des Kölner Stadt-Anzeiger. Als Autor und Rezensent arbeitet er auch nach seiner Pensionierung (2019) für den Kölner Stadt-Anzeiger; gemeinsam mit Petra Pluwatsch betreibt Oehlen den Literaturblog Bücheratlas.

Literatur
  • Harald Horst u. Karen Straub (Hg): Von Frauenhand. Mittelalterliche Handschriften aus Kölner Sammlungen. Katalog zur Ausstellung im Museum Schnütgen, Köln, in Kooperation mit der Erzbischöflichen Diozesan- und Dombibliothek Köln. München 2022.
  • Wolfgang Herborn u. Carl Dietmar: Geschichte der Stadt Köln. Bd. 4. Köln im Spätmittelalter. Köln 2019.
  • Joachim M. Plotzek, Katharina Winnekese u.a.: Glaube und Wissen im Mittelalter Die Kölner Dombibliothek. München 1998.
  • Renate Mattick hat mehrere Aufsätze zu den Kölner Klarissen verfasst, unter anderem nachzulesen in den Wallraf-Richartz-Jahrbüchern und in den Veröffentlichungen der Johannes-Duns-Skotus-Akademie.
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Wohnorte von Heinrich Böll

Neuenhöfer Allee

Neuenhöfer Allee 38, zeitgenössische Aufnahme, das Haus wurde im Krieg zerstört © Foto: Heinrich-Böll-Archiv
Heinrich und Annemarie Böll in ihrer Wohnung in der Neuenhöfer Allee 38, 1942 © Foto Erbengemeinschaft Heinrich Böll

Am 6. März 1942 wurden Annemarie Čech und Heinrich Böll im Rathaus der Stadt Köln standesamtlich getraut. Heinrich Böll war zu diesem Zeitpunkt noch in seiner Heimatstadt stationiert. Seine Verlegung an die französische Kanalküste erfolgte wenige Wochen später, am 7. Mai 1942. So erlebte Annemarie Böll allein die Zerstörung der ersten gemeinsamen Wohnung in der Kleingedankstraße 20 infolge des sogenannten ›1000 Bomber-Angriffs‹ auf Köln am 30./31. Mai 1942. In einem Telegramm schrieb Annemarie Böll an ihren Mann: »Unsere Wohnung total vernichtet; keine Verletzten; erbitte sofort Urlaub.« Dieser »Sonderurlaub für Bombengeschädigte« wurde gewährt und Heinrich Böll konnte im Juni die in der Neuenhöfer Allee 38 in Köln-Sülz gelegene Wohnung ebenfalls beziehen.

»Mir schien eine Woche Urlaub ein unermeßliches Honorar für eine Wohnung, in der keiner verletzt worden war, den Tausch ging ich gerne ein, denn EINE WOCHE IST EINE WOCHE, zu Kriegszeiten also eine Ewigkeit. In unsere zweite Wohnung bekamen wir kein Telefon mehr genehmigt; ich glaube, wir hatten sie drei Jahre ›inne‹, und es mag sein, dass ich eineinhalb bis zwei dutzendmal dort geschlafen habe. Nach einigen Versuchen, dort so etwas wie Wohnung zu finden, mieden wir sie; jedesmal, wenn wir uns dort trafen, war ein besonders schwerer Bombenangriff fällig.«

Wie von Böll im Rückblick des Jahres 1966 angedeutet, wurde auch diese im Erdgeschoß des Hauses gelegene Wohnung infolge eines Luftangriffs am 26. Februar 1943 beschädigt. Zwar konnte die Wohnung nach Instandsetzungsarbeiten zunächst weiterhin bewohnt werden, wurde infolge des Luftangriffs am 21. April 1944 jedoch letztlich ebenfalls unbewohnbar.
In seinem 1985 publizierten »Brief an meine Söhne« beschreibt Böll, wie er im Februar 1945 mit dem Fahrrad von Much aus nach Köln fuhr, um in der zerstörten Wohnung in der Neuenhöfer Allee dort noch verbliebenen Schmuck und sowie Teile des Familiensilbers zu retten.

© – Markus Schäfer, 2022

Markus Schäfer

Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin

Literatur

Siehe: Böll: An einen Bischof …, S. 260f.