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Nava Ebrahimi – Wiener Weg 20

Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen
Hochhaus-Siedlung, Wiener Weg, Köln-Junkersdorf, 2022 © Foto: Martin Oehlen

»Ich habe in Köln wirklich an jeder Ecke Erinnerungen«, sagt Nava Ebrahimi im Gespräch. Sie habe »fast überall« in der Stadt gelebt. Ihre Aufzählung der Wohnadressen ist tatsächlich eindrucksvoll: in Chorweiler »in einem der Hochhäuser«, in Junkersdorf am Wiener Weg und im Univiertel »direkt an den Bahngleisen«. Als Nava Ebrahimi »zehn oder elf Jahre« alt ist, zieht die Familie in den Westerwald, was sie als »Katastrophe« bezeichnet. Nach dem Abitur in Bad Ems geht es zurück nach Köln, wo sie die Journalistenschule im Mediapark besucht, die ein paralleles Studium der Volkswirtschaftslehre vorschreibt: »Ich selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, VWL zu studieren.« Das Studium führt zu neuen Wohnungen. Erst einmal für einen Monat ins Herkules-Hochhaus an der Inneren Kanalstraße, dann in die Eintrachtstraße am Eigelstein, in die Mechternstraße beim Neptunbad, in die Vasterstraße in Neu-Ehrenfeld (»Haltestelle Iltisstraße«), in die Pfälzer Straße am Barbarossaplatz und in die Achterstraße im Severinsviertel. »Vor Chorweiler gab es vermutlich auch noch zwei, drei Adressen – aber da war ich zu klein, um mich daran erinnern zu können. Ach so, in der Moltkestraße habe ich auch einmal gewohnt.«

Die Schriftstellerin, die seit 2012 in Graz in Österreich lebt, wurde 1978 in Teheran im Iran geboren und kam im Alter von drei Jahren nach Köln. Ihr erster Roman Sechzehn Wörter (2017), ausgezeichnet mit dem Debütpreis zum Österreichischen Buchpreis und im Jahre 2022 das »Buch für die Stadt« in Köln und der Region, schildert das Leben in zwei Kulturen. Auch der nachfolgende Roman Das Paradies meines Nachbarn (2020) verbindet eine Vergangenheit im Iran mit der Gegenwart in Deutschland. Für ihre Kurzgeschichte Der Cousin wird sie 2021 mit dem Bachmannpreis in Klagenfurt geehrt. 

Hochhaus-Siedlung, Wiener Weg, Köln-Junkersdorf, 2022 © Foto: Martin Oehlen
Nava Ebrahimi beim Kölner Karneval © Foto: Nava Ebrahimi

Besonders wichtig, sagt Nava Ebrahimi, sei für sie die Kölner Wohnung am Wiener Weg 20 in Junkersdorf gewesen, weil sie damals eingeschult worden sei. »Das war eine prägende Zeit.« Warum sie die katholische Ildefons-Herwegen-Grundschule besucht habe, obwohl in demselben Gebäude auch eine staatliche Grundschule gewesen sei, habe sie bis heute nicht ganz klären können. »Das war eigentlich total schräg, weil ich die einzige Muslimin in der Klasse war«, sagt sie. »Ich hatte einen gewissen Sonderstatus, aber ich war da gerne.« Sie habe auch den Religionsunterricht mitgemacht und jeden Freitag den Schulgottesdienst in der Kirche besucht. »Ich war die einzige Schülerin, die nicht zur Kommunion gegangen ist. Aber ich habe immer aus voller Kehle die Lieder mitgesungen. Ich habe mich nie ausgegrenzt gefühlt. Vielleicht romantisiere ich das auch etwas durch die Erfahrungen im Westerwald. Aber ich habe mich in der Grundschule schon sehr wohl gefühlt. Ich habe Karneval mitgefeiert – und das war schon das Wichtigste für die Integration.« Wenn es überhaupt eine Spannung in der Klasse gegeben haben sollte, dann sei diese auf die sozialen Unterschiede zurückzuführen gewesen – die eine Hälfte kam »aus der Hochhaus-Siedlung am Wiener Weg und die andere aus den schönen alten Häusern rund um die Frankenstraße.«

Mit der Literatur sei sie erst spät in Kontakt gekommen, erzählt Nava Ebrahimi. Bücher hätten nach der Emigration aus dem Iran kaum noch eine Rolle in der bildungsnahen Familie gespielt. Zum einen hätten die Eltern »wirklich viel gearbeitet«, zum anderen sei es damals in Deutschland schwierig gewesen, an iranische Literatur zu gelangen. Dann habe sie im Alter von 12 Jahren von einer Cousine einen Band mit Erzählungen von Heinrich Böll geschenkt bekommen. »Eigentlich hatte ich vorher nur wenige Bücher gehabt – und dann gleich so etwas.« Auf diese Weise sei Heinrich Böll zu einer ihrer frühesten Leseerfahrungen geworden. In dem Band sei ihr die Erzählung An der Brücke (1950) besonders nahegegangen. Diese wird auch in ihrem Roman Sechzehn Wörter hervorgehoben. Der aus Persien stammende Dichter SAID, der 2021 in München gestorben ist, habe einmal in einem Interview gesagt, dass dies für ihn eine »persische« Geschichte sei – »und das habe ich auch so empfunden.« Persisch wirke der Böll-Text, weil er voller Andeutungen sei, vieles in der Schwebe lasse und sehr sehnsuchtsvoll angelegt sei.

Erste literarische Versuche unternahm Nava Ebrahimi mit 15, 16 Jahren. »Das waren noch Zwischenformen aus Brief und Tagebuch mit prosaischem Einschlag.« Mit 20 Jahren habe sie begonnen, Texte zu Wettbewerben einzuschicken. Das habe auch oft geklappt. Ansätze zum Debütroman Sechzehn Wörter gab es schon recht früh. Doch dabei blieb es zunächst. Ihre Erfahrung ist: »40 Seiten schreibt man schnell mal runter. Aber wenn man an den Punkt kommt, an dem man sich wirklich Gedanken über die Form und die Struktur machen muss, wenn es also richtig Arbeit macht, lässt man es dann oft liegen – zumal dann, wenn man noch einen anderen Beruf hat.« Den hatte Nava Ebrahimi in Köln: Sie war unter anderem tätig als Journalistin für die Financial Times Deutschland und die Stadtrevue. Erst nach dem Umzug nach Graz im Jahre 2012 fand sie die Zeit zum Schreiben, weil sie in Österreich anfangs »niemanden kannte, keinen Job hatte und mit dem Baby zuhause saß.«

Ein Anlass, sich auf Sechzehn Wörter einzulassen, sei ihre iranische Großmutter gewesen: »Sie ist eine wichtige Frau in meinem Leben und ein ganz, ganz ambivalenter Mensch.« Mit der Niederschrift des Romans habe sie versucht, diese Person zu fassen zu kriegen. Und dann wollte Nava Ebrahimi auch noch erzählen von einem Leben in und mit zwei Kulturen, der deutschen und der iranischen. »Ich bin immer relativ ›allein unter Weißen‹ gewesen, um den Buchtitel von Mohamed Amjahid zu zitieren. Ob auf der Grundschule in Junkersdorf oder in Bad Ems, wo ich Abitur gemacht habe, war ich meist die einzige Nicht-Weiße, die einzige Nicht-Deutsche beziehungsweise Nicht-Deutsch-Deutsche.« Ein Doppelleben in zwei Welten sei es gewesen, und sie habe nicht recht gewusst: »wohin damit.« Zwar gebe es im Literatur-Kanon Texte über ein solche existentielle Zerrissenheit, über die Erfahrung, »nicht zu wissen, wo man hingehört.« Damit habe sie sich ein Stück weit identifizieren können. »Aber die speziellen Konflikte und Widersprüche, die ich aushalten musste, habe ich nirgends repräsentiert gefunden.« So sei das Schreiben auch ein Versuch gewesen, sich mitzuteilen und zu finden. Nava Ebrahimi hat eine Weile in Hamburg gelebt. Das war noch vor dem Umzug nach Graz:

»Ich fand Hamburg toll, habe das wirklich geliebt und das ist für mich die schönste und liebenswerteste Stadt in Deutschland. Ich bin dann aber immer wieder zu Prüfungen an die Uni nach Köln gefahren – und wenn ich dann den Dom gesehen habe, ist mir das Herz aufgegangen. Obwohl ich mich so wohl in Hamburg gefühlt habe, bin ich dann doch nach Köln zurückgezogen. Es hat eben etwas gefehlt. Da habe ich gemerkt, dass ich für Köln mehr Gefühle habe als für einen anderen Ort.«

Nava Ebrahimi

Das liege daran, wiederholt Nava Ebrahimi, »dass ich in Köln an jeder Ecke Erinnerungen habe.« Spontan fällt ihr die markante Neonreklame Er trinkt, sie trinkt!  am Rudolfplatz ein, die sie als Kind, in der Straßenbahn-Linie 1 sitzend, beeindruckt habe. Nava Ebrahimi fasst zusammen: »Kein Ort kommt für mich näher an ›Heimat‹ heran als Köln.«

– © Martin Oehlen, 2022

Martin Oehlen

geb. 1955 in Kaldenkirchen, kam 1980 nach seinem Studium zum Kölner Stadt-Anzeiger. 1989 wurde er stellvertretender Leiter der Kulturredaktion; gemeinsam mit Reiner Hartmann übernahm Oehlen 1994 die Leitung des Ressorts Kultur; ab 2001 war er alleiniger Ressortleiter. Besonders verdienstvoll war sein Engagement für die Aktionen »Kultursonntag«, »Ein Buch für die Stadt« und für das monatliche »Büchermagazin« des Kölner Stadt-Anzeiger. Als Autor und Rezensent arbeitet er auch nach seiner Pensionierung (2019) für den Kölner Stadt-Anzeiger; gemeinsam mit Petra Pluwatsch betreibt Oehlen den Literaturblog Bücheratlas.

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Norbert Scheuers Lieblingsorte in Köln

Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen

Mit Kall ist Norbert Scheuer persönlich und literarisch aufs Engste verbunden. Mittlerweile hat er erzählend einen ganzen Kosmos um den Ort in der Eifel erschaffen. Selbstverständlich ist das fiktive Kall nicht identisch mit dem real existierenden Kall. Gleichwohl finden sich kulturhistorisch-topographische Verbindungen zuhauf.

Allerdings gibt es auch die eine oder andere Beziehung zu Köln. So hat Norbert Scheuer in den 1970er Jahren einige Jahre zwischen Lehre und Studium, wie er sagt, als Elektriker beim WDR gearbeitet. In unmittelbarer Nachbarschaft zum WDR-Areal in der Straße An der Rechtschule befand sich damals noch das »Wallraf-Richartz-Museum«, das später erst ins damalige Doppelmuseum am Dom und dann ans Rathaus gezogen ist. Der Schriftsteller erinnert sich, dass er zwei Jahre lang nahezu jede Mittagspause dort verbracht habe, um die Kunstsammlung zu besuchen.

MAKK. Innenhof mit Café und dem Lochner-Brunnen von Ewald Mataré. Rechts im Hintergrund: die Minoritenkirche. © Foto Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0, 2011

Seit 1989 ist in dem Gebäude, das 1957 von Rudolf Schwarz in Zusammenarbeit mit Josef Bernard neben der Minoritenkirche errichtet wurde, das »Museum für Angewandte Kunst« zuhause. Dem Ort ist Norbert Scheuer auch über seine Zeit beim WDR hinaus treu geblieben. »Seither ist die Restauration im Innenhof des Museums für Angewandte Kunst immer meine erste Anlaufstelle in Köln, zwischen moderner Architektur und den alten Mauern der Kirche zu sitzen, quasi mitten in der Stadt und doch völlig abgeschieden im Schatten eines schönen Baumes, dessen Namen ich immer noch nicht kenne.« Zu seiner Zeit als Mitarbeiter des WDR sei er allerdings nur im Museum selbst gewesen. »Ich weiß nicht einmal mehr, ob es in den 70ern bereits das Café im Innenhof gegeben hat.«

Und noch eine zweite Anlaufstelle hat Norbert Scheuer in Köln: „Das ist für mich die Stadtbibliothek am Neumarkt.« Der Schriftsteller sagt: »In bestimmten Phasen meiner Arbeit sitze ich gerne dort in der zweiten oder dritten Etage am Fenster, blicke in den Haubrich-Hof hinunter, lese und exzerpiere für ein neues Romanprojekt. Später gehe ich dann endlich hinunter zur Eisdiele und trinke auf der Terrasse einen Cappuccino und sehe den Menschen zu, die in die Bibliothek hinein- und hinausgehen. Mittlerweile ist mir der Platz dort fast wichtiger geworden als die Bibliothek.«

Beim Nachsinnen über seine Kölner Lieblingsplätze kommt Nobert Scheuer ein Gedanke: »Übrigens fällt mir jetzt gerade auf, dass die Orte, die mir gefallen, immer irgendwie am Rande des Zentrums liegen, als wollte ich irgendwie dabei sein, aber doch nicht dazu gehören.«

– © Martin Oehlen, 2021

Martin Oehlen

geb. 1955 in Kaldenkirchen, kam 1980 nach seinem Studium zum Kölner Stadt-Anzeiger.1989 wurde er stellvertretender Leiter der Kulturredaktion; gemeinsam mit Reiner Hartmann übernahm Oehlen 1994 die Leitung des Ressorts Kultur; ab 2001 war er alleiniger Ressortleiter. Besonders verdienstvoll war sein Engagement für die Aktionen »Kultursonntag«, »Ein Buch für die Stadt« und für das monatliche »Büchermagazin« des Kölner Stadt-Anzeiger. Als Autor und Rezensent arbeitet er auch nach seiner Pensionierung (2019) für den Kölner Stadt-Anzeiger; gemeinsam mit Petra Pluwatsch betreibt Oehlen den Literaturblog Bücheratlas.

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»Weh dem, der den edlen Fürsten von Köln erschlug!«

Walther von der Vogelweide preist Erzbischof Engelbert I.

Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen
»Herr Walther von der Vogelweide«. In: Codex Manesse, UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 124r

Nichts gegen Latein. Aber welches ist die älteste literarische Erwähnung Kölns in deutscher Sprache? Zum Kreis der Favoriten zählen die mittelhochdeutschen Verse von Walther von der Vogelweide (um 1170 – um 1230) auf den Kölner Erzbischof Engelbert I. (um 1185 – 1225). Wenig weiß man über den herausragenden Dichter. Weder sein Geburtsort ist gesichert noch seine letzte Ruhestätte. Es ist von ihm nur ein einziges zeitgenössisches Dokument überliefert, demzufolge er vom Passauer Bischof Wolfger von Erla einen Pelzmantel erhalten hat. Für den 12. November 1203 ist im Rechnungsbuch des Bischofs vermerkt: »Walthero cantori de Vogelweide pro pellicio V. sol. Longos« (für den Sänger Walther von der Vogelweide fünf »solidi longos«, was in der Forschung zuweilen mit »fünf Schillinge« übersetzt wird).

Vieles mehr wird nicht aus historischen Quellen, sondern aus Walthers Werk erschlossen. Aus dem Minnesang, den er fulminant aufmischte, und aus der sogenannten Sangspruchdichtung, mit der er sich in die politischen Verhältnisse einmischte – schimpfend, schmeichelnd, ironisch, keck und kunstvoll. Selbstverständlich sind solche biografischen Rückschlüsse aus der Dichtung riskant. Allerdings kann aus den Texten mit Gewissheit geschlossen werden, dass Walther als fahrender Sänger bestrebt war, Gönner zu gewinnen. Sei es als längerfristiges Engagement oder als einmalige Unterstützung. So lobt er den Geiz des einen und die Großzügigkeit des anderen. Er wendet sich in seiner Lyrik an Fürsten, Könige und Kaiser – und an Erzbischof Engelbert I. von Köln.

Aus der Familie der Grafen von Berg stammend, zählte Engelbert zu den mächtigsten Personen im Reich. Als Kölner Erzbischof wurde er im Jahre 1220 von Kaiser Friedrich II. zum Reichsverweser ernannt. Auch war er Vormund des kaiserlichen Sohnes Heinrich, den er 1222 in Aachen zum König krönte. Walther von der Vogelweide rief diesem Engelbert in den Sprüchen seines sogenannten Kaiser Friedrichston zu:

»Von Kölne werder bischof, sît von schulden frô!

ir hât dem rîche wol gedienet, und alsô

daz iuwer lop da enzweschen stîget unde sweibet hô.

sî iuwer werdekeit dekeinen bœsen zagen swære

fürsten meister, daz sî iu als ein unnütze drô.

getriuwer küneges pflegære, ir sît hôher mære,

keisers êren trôst baz danne ie kanzelære,

drîer künege und einlif tûsent megde kamerære.«

(»Edler Bischof von Köln, Ihr dürft Euch freuen! Ihr habt dem Kaiser und dem Reiche so gut gedient, dass Euer Ruhm nun immer steigt und höher schwebt. Wenn, Herr der Fürsten, Euer hohes Amt dem gemeinen Feigling lästig ist und er Euch droht, beachtet seine leere Drohung nicht. Treuer Königsvormund, Ihr seid berühmt und wahrt des Kaisers Ansehen besser als es je ein Kanzler tat – Kämmerer von elftausend Jungfrauen und drei Königen.« Übersetzung zitiert nach Joerg Schaefer.)

Walther verweist in seiner Lobeshymne bemerkenswerterweise auf Drohungen gegen den Erzbischof. Unumstritten war Engelbert weder in der Metropole noch im riesigen Erzbistum. Ein Konflikt um Vogteirechte des Essener Damenstiftes, so stellen es Hugo Stehkämper und Carl Dietmar in dem Band Köln im Hochmittelalter dar, führte zu Engelberts Ermordung am 7. November 1225. Auf der Rückreise nach Köln wurde er bei Gevelsberg überfallen. Eine moderne gerichtsmedizinische Untersuchung der überlieferten Gebeine, die 1978 stattgefunden hat, führt Dutzende Verletzungen der Knochen auf. Als einer der Initiatoren des Anschlags gilt Friedrich von Isenberg, ein Neffe zweiten Grades, wenngleich unklar ist, ob er nicht nur eine Gefangennahme geplant hatte.

Detailansicht des Engelbertschreins in der Domschatzkammer in Köln. Dargestellt ist Erzbischoff Engelbert
Köln, Domschatzkammer, Engelbertschrein, Deckel, Detailansicht: Erzbischof Engelbert © Hohe Domkirche Köln, Dombauhütte; Foto: Matz und Schenk

Die Nachricht vom Tod des Erzbischofs erreichte auch Walther von der Vogelweide. Er schrieb in seinem zweiten Engelbertspruch im Rahmen des Kaiser Friedrichtons:

»Swes leben ich lobe, des tôt den wil ich iemer klagen.

sô wê im der den werden fürsten habe erslagen

von Kölne! owê des daz in diu erde mac getragen!

Ine kan im nâch sîner schulde keine marter vinden:

im wære alze senfte ein eichîn wit umb sînen kragen.

In wil sîn ouch niht brennen noch zerliden noch schinden

noch mit dem rade zerbrechen noch ouch dar ûf binden,

ich warte allez ob diu helle in lebende welle slinden.«

(»Ich preise sein Leben, und immer klage ich um seinen Tod. Weh dem, der den edlen Fürsten von Köln erschlug! O dass ihn die Erde noch tragen will! Ich weiß keine Marter groß genug für seine Schuld. Ein Eichenstrang um seinen Hals wäre ihm zu sanft. Ich will ihn nicht verbrennen noch ihn zerstückeln noch ihm die Haare abziehen, auch ihn nicht mit dem Rad zermalmen noch aufs Rad ihn flechten; ich warte nur jeden Tag, ob ihn nicht die Hölle lebendig verschlingt.« Übersetzung zitiert nach: Joerg Schaefer)

Walthers speziellem Wunsch, den Täter nicht aufs Rad zu flechten, entsprach Engelberts Nachfolger Heinrich von Müllenark allerdings nicht. Am 13. November 1226 wurde Friedrich von Isenberg vor dem Severinstor in Köln gerädert.

Engelberts Nachruhm entwickelte sich schnell. Dazu trug die Biografie des Zisterziensermönchs Caesarius von Heisterbach bei: Vita, passio et miracula beati Engelberti Coloniensis archiepiscopi (»Leben, Leiden und Wunder des heiligen Engelbert, des Erzbischofs von Köln«). Bald schon wurde der Erzbischof als Märtyrer und wunderwirkender Heiliger verehrt, wenngleich er nie offiziell kanonisiert worden ist. Die Gebeine ruhten zunächst in einem umgitterten Steingrab im Alten Dom in Köln. Seit 1633 befinden sie sich in einem barocken, vom Goldschmied Conradt Duisbergh nach Entwürfen von Jeremias Geisselbrunn und Augustin Braun gefertigten Silbersarkophag, der heute in der Schatzkammer des Kölner Doms steht. Weitere Reliquien des ermordeten Erzbischofs werden unter anderem im Altenberger Dom, in Essen, Wien und Gevelsberg aufbewahrt.

Ob Walther – der vor allem in Wien, in Südtirol und im Süddeutschen verortet wird – jemals in Köln gewesen ist, steht dahin. Zwar behauptet das lyrische Ich eines seiner Lieder, es sei »von der Elbe unz an den Rîn / und her wider unz an Ungerland« unterwegs gewesen, also von der Elbe bis an den Rhein und dann zurück nach Ungarn. Doch zum einen ist dies eben doch ein Ich, das nicht zwingend mit dem Autor gleichzusetzen ist. Und zweitens ist der Rhein ein langer Fluss mit vielen Verweilmöglichkeiten.

– © Martin Oehlen, 2021

Martin Oehlen

geb. 1955 in Kaldenkirchen, kam 1980 nach seinem Studium zum Kölner Stadt-Anzeiger. 1989 wurde er stellvertretender Leiter der Kulturredaktion; gemeinsam mit Reiner Hartmann übernahm Oehlen 1994 die Leitung des Ressorts Kultur; ab 2001 war er alleiniger Ressortleiter. Besonders verdienstvoll war sein Engagement für die Aktionen »Kultursonntag«, »Ein Buch für die Stadt« und für das monatliche »Büchermagazin« des Kölner Stadt-Anzeiger. Als Autor und Rezensent arbeitet er auch nach seiner Pensionierung (2019) für den Kölner Stadt-Anzeiger; gemeinsam mit Petra Pluwatsch betreibt Oehlen den Literaturblog Bücheratlas.

Literatur
  • Joerg Schaefer (Hrsg.): Walther von der Vogelweide – Werke. Darmstadt 1972.
  • Gerhard Hahn: Walther von der Vogelweide. München und Zürich 1986.
  • Leonie Becks und Rolf Lauer: Die Schatzkammer des Kölner Domes. Köln 2000.
  • Anton Legner: Kölner Heilige und Heiligtümer. Köln 2003.
  • Hugo Stehkämper und Carl Dietmar: Köln Im Hochmittelalter. Köln 2016.

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»Nach Köln hin wälzt der Rhein sein heiliges Wasser fort«

Die Marcel-Proust-Promenade

Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen
Jacques-Emile Blanche: Porträt von Marcel Proust 1892, Öl auf Leinwand, 73,5 x 60,5 cm © RMN-Grand Palais (Musée d’Orsay) CC BY 3.0

Marcel Proust (1871–1922) ist nie in Köln gewesen. In Deutschland hat er es lediglich bis nach Bad Kreuznach geschafft. Dennoch ist Köln diejenige deutsche Stadt, in der dem Autor des siebenbändigen Romankolosses A la recherche du temps perdu (dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) besonders große Aufmerksamkeit zuteilwird. Die hier ansässige Marcel-Proust-Gesellschaft ist nicht nur damit befasst, ihre Mitglieder zu einschlägigen Versammlungen einzuladen. Auch leistet sie mit zahlreichen Veröffentlichungen ihren Beitrag zur Erforschung des Autors und seines Werks. Überdies hat der Kunst- und Literatursammler Reiner Speck in seiner »Bibliotheca Proustiana« einen außerordentlichen Schatz zusammengetragen. Dazu gehört seit 2021 jenes Manuskript, in dem Proust das einzige Mal in seinem Gesamtwerk die Stadt Köln erwähnt – sieht man einmal ab vom Duftwasser »Eau de Cologne«. In Les plaisirs et les jours (dt. Freuden und Tage), Prousts erster Veröffentlichung aus dem Jahre 1896, lautet eine Gedichtzeile: »Vers Cologne le Rhin roule ses eaux sacrées« (dt. »Nach Köln hin wälzt der Rhein sein heiliges Wasser fort«).

Die Kölner Wertschätzung für den großen Franzosen findet ihren allgemein wahrnehmbaren Ausdruck auf der Marcel-Proust-Promenade. Als sie Ende Juni 2009 im Stadtwald eröffnet wurde, auf Initiative von Reiner Speck, dem Präsidenten der Marcel-Proust-Gesellschaft, war sie deutschlandweit die erste Straße, die den Namen des Dichters erhielt.    

Vom Spazierengehen ist in der Suche nach der verlorenen Zeit oft die Rede. Da promenieren wir mit dem Ich-Erzähler am Atlantikstrand bei Balbec (dem realen Cabourg), auf dem Méséglise-Weg und auf dem Guermantes-Weg in Combray (dem realen Illiers-Combray), in den Gassen der »verzauberten Stadt« Venedig und im Bois de Boulogne in Paris. Mal ist er allein unterwegs und mal in Begleitung, mal hängt er seinen Träumen nach und mal lässt er seine Gedanken schweifen, mal beobachtet er Passanten und mal erfreut er sich an der Natur. Nicht zuletzt tut ihm die Bewegung gut: Gerade »nach langen Stunden über einem Buch« empfand sein Körper »das Bedürfnis, sich wie ein losgelassener Kreisel in alle Richtungen zu verausgaben«.

Reiner Speck an der Marcel-Proust-Promenade, Köln, 26.8.2009 © Foto Burkhard Maus

Zu alledem lädt die Marcel-Proust-Promenade ein. Sie beschreibt einen großen Halbkreis im Stadtwald, mit dessen Anlage 1895 nach einem Entwurf von Gartenbaudirektor Adolf Kowallek begonnen worden war. Das geschah zu jener Zeit, da Marcel Proust eine undotierte Stelle in der Bibliothèque Mazarine in Paris annahm. Allerdings war er in der ältesten Bibliothek des Landes – krankheitsbedingt – nur selten anzutreffen. Außerdem begann er in jenem Jahr 1895 den Fragment gebliebenen Roman Jean Santeuil. Dieses Werk empfiehlt Rudolf Steiert im Band 1 der Schriftenreihe Sur la lecture, herausgegeben von der Marcel-Proust-Gesellschaft, als einen möglichen Leseeinstieg für Proust-Anfänger: »Dieses (von ihm selbst verworfene) Frühwerk ist eine Art Vorstudie zur ›Recherche‹, leichter zu lesen als diese und meines Erachtens zur Einstimmung gut geeignet (auch zum Weitermachen, nach meiner Erfahrung, wenn die Lektüre des magnum opus mal ins Stocken gerät.)«.

Die asphaltierte Promenade zwischen Dürener Straße und Friedrich-Schmidt-Straße, auf dem Anfang der 1930er Jahre gelegentlich Motorradrennen veranstaltet wurden, führt durch Mischwald und über einen sehr sanften Hügel. An der Strecke liegen Tennisplätze, ein recht verwunschener Teich (mit einer kanalisierten Verbindung zum Kahnweiher nebst Wasserfontäne), eine Skaterbahn, eine Erinnerungstafel für die ehemalige »Waldschenke«, die 1889 »tief im Wald auf dem tieferliegenden Teil der Volkswiese« im sogenannten Villenstil errichtet worden ist, bald darauf der Tierpark und – wenn auch von Bäumen verdeckt und etwas distanziert – der Sitz der Marcel-Proust-Gesellschaft in der Brahmsstraße.

Zweimal quert eine eingleisige Bahntrasse den Weg. Auf ihr werden allerdings nur gelegentlich Güterwaggons zwischen dem Niehler Hafen und Frechen bewegt, so dass Spaziergänger, Jogger, Hundehalter und Radfahrer kaum einmal ausgebremst werden. Wer einen Ausblick über Wiese und Baumwipfel hinweg wünscht, muss auf dem Scheitelpunkt des Hügels nur einen winzigen Abstecher zum »Dreizehn-Linden-Platz« machen. Zwar sieht man hier weder »die feine Spitze des Glockenturms von Saint-Hilaire«, wie der Erzähler auf einem Spaziergang im Teilband Combray, noch die Spitzen des Kölner Doms. Schön ist es dort oben gleichwohl.

Proust-Leserinnen und Proust-Leser werden noch einen weiteren Aspekt zu würdigen wissen. Der Weißdorn nämlich, dessen »bitteren und süßen Mandelgeruch« der Erzähler der Recherche intensiv erlebt und der einige Male seine Erinnerung anregt, wächst auch entlang der Marcel-Proust-Promenade im Kölner Stadtwald.

– © Martin Oehlen, 2021

Martin Oehlen

geb. 1955 in Kaldenkirchen, kam 1980 nach seinem Studium zum Kölner Stadt-Anzeiger. 1989 wurde er stellvertretender Leiter der Kulturredaktion; gemeinsam mit Reiner Hartmann übernahm Oehlen 1994 die Leitung des Ressorts Kultur; ab 2001 war er alleiniger Ressortleiter. Besonders verdienstvoll war sein Engagement für die Aktionen »Kultursonntag«, »Ein Buch für die Stadt« und für das monatliche »Büchermagazin« des Kölner Stadt-Anzeiger. Als Autor und Rezensent arbeitet er auch nach seiner Pensionierung (2019) für den Kölner Stadt-Anzeiger; gemeinsam mit Petra Pluwatsch betreibt Oehlen den Literaturblog Bücheratlas.

Literatur
  • Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, dt. von Bernd-Jürgen Stuttgart 2013-2016.
  • Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, dt. von Eva Rechel-Mertens und überarbeitet von Luzius Keller. Frankfurter Ausgabe (7 Bde.)  Frankfurt/M.  2011.
  • Konrad Adenauer und Volke Gröbe: Lindenthal – Die Entwicklung eines Kölner Vorortes, Köln 2004.
  • Rudolf Steiert: Sur la lecture, Band 1. Hg. v. der Marcel-Proust-Gesellschaft. Köln 1995.

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»Colonia Claudia Ara Agrippinensium«

Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen
Römischer Torbogen (Nordtor), Römisch-Germanisches Museum. Foto: © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_c001794, http://www.kulturelles-erbe-koeln.de

Die Annalen des P. Cornelius Tacitus gelten als ein Höhepunkt der antiken Geschichtsschreibung. Sie widmen sich der Julisch-Claudischen Dynastie, beginnend mit dem Tod von Kaiser Augustus im Jahre 14 n. Chr. und endend mit Kaiser Nero, der von 54 bis 68 regierte. Im 12. Buch dieser römischen Geschichte findet sich jene Passage, in der erstmals geschildert wird, wie aus der Stadt der Ubier, die einst Augustus hatte gründen lassen, die »Colonia Claudia Ara Agrippinensium« (CCAA) geworden ist, also die »Kolonie des Claudius am Altar der Agrippinensier«. Im 27. Kapitel lesen wir:

»Agrippina aber setzte durch, um auch den verbündeten Völkern ihre Macht zu demonstrieren, dass in der Stadt der Ubier, in der sie geboren worden war, Veteranen angesiedelt und eine nach ihr benannte Kolonie gegründet wurde. Zufällig fügte es sich, dass ihr Großvater Agrippa diesen Stamm, nachdem dieser den Rhein überschritten hatte, in den römischen Schutz aufgenommen hatte.«

Ausführlich widmet sich Tacitus dem Leben der Agrippina der Jüngeren (Agrippina minor), der Tochter des Feldherrn Germanicus und der Mutter Neros. Was wir hingegen vom Leben des Schriftstellers selbst wissen, ist mit den Worten des Altphilologen Manfred Fuhrmann »kümmerlich«, ja, sogar »so kümmerlich, dass sich daraus mehr Fragen als Antworten ergeben.« Umso beredter ist sein umfangreiches Werk, wenngleich einiges davon nur fragmentarisch überliefert ist: Agricola, Germania, Historiae und Annales.

Vermutlich unmittelbar nach der kaiserlichen Aufwertung der Stadt im Jahre 50 n. Chr., die mit einigen Privilegien verbunden war, entstand die römische Stadtmauer. Wer sich aus Richtung Novaesium näherte, dem heutigen Neuss, der sah auf dem mächtigen Nordtor die markanten Buchstaben prangen: CCAA. Der mittlere Bogen der dreitorigen Anlage ist eine der Attraktionen des Römisch-Germanischen Museums. Weitere Überreste sind am alten Standort zu besichtigen. Ein Seitenflügel, der als Durchgang für Fußgänger diente, ragt auf der Domplatte auf. Das freigelegte Fundament des rund 30 Meter breiten Nordtores erstreckt sich in der darunter liegenden Tiefgarage über zwei Etagen.

Seitenportal Römisches Nordtor © Foto Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (Via Wikimedia Commons)

Schon Strabo hatte festgehalten, dass Agrippa – also der bereits erwähnte Großvater der Agrippina – den Germanenstamm der Ubier auf der linken Reinseite angesiedelt hatte. Und Tacitus war bereits in seiner Germania auf das »Oppidum Ubiorum« eingegangen. Doch die Passage in den Annalen, den vermutlich zwischen 110 bis 120 n. Chr. entstandenen Jahrbüchern, ist eine Art Urschrift der Stadt. Es ist die älteste bekannte Erwähnung der CCAA in der Literatur. Aus der »Colonia«, dem ersten großen C, wurde viele Jahrhunderte später die Ortsangabe »Köln«.

Der Althistoriker Werner Eck hat sich in seiner fundamentalen Untersuchung zu Köln in römischer Zeit ausführlich mit den Hintergründen der Umbenennung befasst. Für Agrippina spielten sentimentale Erwägungen gegenüber der Stadt, in der sie am 6. November des Jahres 15 n. Chr. geboren worden war, wohl keine zentrale Rolle. Vielmehr sieht Eck in der Koloniegründung einen Nachweis für Agrippinas Machtbewusstsein als Ehefrau des Kaisers Claudius. Er war ihr dritter Ehemann und zugleich ihr Onkel (den sie später angeblich mithilfe eines Pilzgerichts vergiften ließ). Nachdem Claudius seinem Geburtsort Lugdunum (Lyon) den Beinamen Claudia gewährt hatte, zog Agrippina mit der Aufwertung ihres Geburtstortes am Rhein nach. Werner Eck beschreibt die Einzigartigkeit des Vorgangs: »Agrippina war die erste und blieb die einzige Römerin, deren Name mit einer römischen Kolonie verbunden wurde.«

Martin Oehlen

geb. 1955 in Kaldenkirchen, kam 1980 nach seinem Studium zum Kölner Stadt-Anzeiger. 1989 wurde er stellvertretender Leiter der Kulturredaktion; gemeinsam mit Reiner Hartmann übernahm Oehlen 1994 die Leitung des Ressorts Kultur; ab 2001 war er alleiniger Ressortleiter. Besonders verdienstvoll war sein Engagement für die Aktionen »Kultursonntag«, »Ein Buch für die Stadt« und für das monatliche »Büchermagazin« des Kölner Stadt-Anzeiger. Als Autor und Rezensent arbeitet er auch nach seiner Pensionierung (2019) für den Kölner Stadt-Anzeiger; gemeinsam mit Petra Pluwatsch betreibt Oehlen den Literaturblog Bücheratlas.

Literatur
  • Tacitus: Annalen, übersetzt und erläutert von Erich Heller, mit einer Einführung von Manfred Fuhrmann. München 1991.
  • Werner Eck: Köln in römischer Zeit – Geschichte einer Stadt im Rahmen des Imperium Romanum, Band 1 der Geschichte der Stadt Köln. Köln 2004.
  • Marcus Trier und Friederike Naumann-Steckner: Agrippina – Kaiserin aus Köln. Begleitband zur Ausstellung im Römisch-Germanischen Museum, Köln 2015.