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Heinrich Böll – Vondelstraße 28

Im Hinterhof der Vondelstraße 28-30 befand sich ab 1902 die Schreinerei von Heinrich Bölls Vater Viktor Böll (1870–1960). Mit der Werkstadt verband Böll viele positive Erinnerungen. Hier roch es nach Leim, Beize und frisch gehobelten Brettern und die Schreibmaschine im Büro diente dem jungen Heinrich Böll zur Niederschrift seiner ersten, stilistisch noch tastenden, thematisch aber selbstgewissen Schreibversuche. Hier geht es zum Beitrag.

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Heinrich Böll – Vondelstraße 28

Vondelstraße 28, Aufnahme von 1998 © Foto: Heinrich-Böll-Archiv
Visitenkarte von Viktor Böll, 1925

1896 eröffneten Viktor Böll (1870–1960) und sein Kolpingbruder Wilhelm Polls (1866–1950) am Wormser Platz 13 [heute Martin-Luther-Platz] in der Kölner Südstadt ihr »Atelier für kirchliche Kunst«. Eine Schreinerei, die für die zahlreichen Sakralbauten in und um Köln Beichtstühle, Orgelbrüstungen, Bänke und anderes kirchliches Mobiliar anfertigte – und dies dank ihres Erfolges mit bis zu sechzehn Gesellen. Die positive Auftragslage führte dazu, dass der Handwerksbetrieb expandierte und die Geschäftspartner 1898 in der Vondelstraße zwei Häuser errichten konnten. Im gemeinsamen Hinterhof der Häuser Nr. 28 und Nr. 30 firmierte ab 1902 die Schreinerei unter dem Namen »Böll & Polls – Werkstatt für Kirchenmöbel«. Nachdem sich in den Jahren seit Ende des Ersten Weltkriegs die Auftrags- und Versorgungslage verschlechterte, trennten sich die Geschäftspartner 1920 gütlich und Viktor Böll, dem die Werkstatt verblieb, führte den Betrieb als »Kunsttischlerei, Werkstätten für kirchliche Kunst« bis in die 1930er Jahre erfolgreich weiter.

In seinem 1952 publizierten Essay Über mich selbst beschrieb Heinrich Böll als eine seiner ersten Erinnerungen die Schreinerwerkstatt seines Vaters: »Holzgeruch, der Geruch von Leim, Schellack und Beize; der Anblick frischgehobelter Bretter, das Hinterhaus einer Mietskaserne, in der die Werkstatt lag«. Besonders reizvoll war für ihn das Büro der Schreinerei, das er in seinem Text Was soll aus dem Jungen bloß werden? näher beschrieb. Das »Bürohäuschen war verlockend gemütlich, ganz aus Holz, etwas zwischen Blockhaus und Baracke, es hatte schöne, solide gearbeitete Rollschränke mit Schiebetüren aus grünem Glas, in denen Beschläge und Zeichnungen lagen: neogotische Türmchen, Säulchen, Blumen, Heiligenfiguren; Entwürfe zu Beichtstühlen, Kanzeln, Altären und Kommunionbänken, Möbeln, und es gab da noch eine alte Kopierpresse aus Vorkriegszeiten, und immer noch Kartons mit Glühbirnen mit Bajonettverschlüssen, obwohl wir doch Hunderte davon im Garten der Kreuznacher Straße zerschossen hatten. Grüne Bürolampen, ein großer Tisch mit grünem Linoleum; Leimplatten, Werkzeug.«
Die Schreibmaschine des Werkstattbüros diente dem jungen Heinrich Böll zur Niederschrift seiner ersten, stilistisch noch tastenden, thematisch aber selbstgewissen Schreibversuche:

Die ersten Arbeiten stehen ganz sicher unter dem Einfluß der Dostojewski-Lektüre. Das Ambiente von Raskolnikow und Arme Leute fand ich in der Nachbarschaft, in den Mietskasernen, in denen mein Vater seine Werkstatt hatte; das ganze Milieu und Viertelmaterial, das ich aus dieser Lektüre kannte.«

Heinrich Böll: Über mich selbst


Einige der aus dieser Zeit überlieferten Typoskripte wurden auf der Rückseite der Rechnungsformulare des Betriebs geschrieben: »Viktor Böll, Köln, Kunsttischlerei, Werkstätten für kirchl. Kunst, Vondelstraße 28–30. Im Februar 1933, kurz vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, übertrug der zum damaligen Zeitpunkt 63jährige Viktor Böll die Werkstatt an Heinrich Bölls ältesten Bruder Alois (1911–1981), der sie bis zum Juli 1955 als selbständiger Schreinermeister weiterführte. Alois Böll wurde Heinrich Bölls erster Arbeitgeber als dieser Mitte September 1945 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Von Oktober 1945 bis Mai 1946 arbeitete er als Hilfsarbeiter in der Werkstatt seines Bruders. Nach dem Tode Viktor Bölls 1960 wurde das Haus in der Vondelstraße verkauft und der Erlös unter den Erben aufgeteilt.

Anlässlich des 100. Geburtstage von Heinrich Böll produzierte der WDR 2017 eine Augmented-Reality Entdeckungsreise auf den Spuren des Autors durch die Kölner Südstadt. Wolfgang Niedecken führt die Betrachter auch in die Vondelstraße.  
Böll folgen: Heinrich Böll – in der Südstadt

© Gabriele Ewenz / Markus Schäfer, 2022

Gabriele Ewenz

Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Leiterin des Heinrich-Böll-Archiv und des Literatur-in-Köln Archiv (LiK)

Markus Schäfer

Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin

Literatur

Siehe: Böll: Über mich selbst, S. 32; Was soll aus dem Jungen bloß werden?, S. 401.

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Aktuelles Allgemein

Ein Buch für die Stadt Köln

Die Idee ist ganz einfach und international erfolgreich: Ein Buch, in der Regel ein Roman, wird von einer Jury ausgewählt und durch Lesungen, Vorträge, Diskussionen oder Aufführungen, innerhalb eines begrenzten Zeitraumes im gesamten Stadtraum vorgelesen und präsentiert. Auch ungewöhnliche Veranstaltungsorte und Darbietungsformen erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Mit dieser besonderen Buch- und Leseförderungsaktion wird jedes Jahr eine Autorin oder ein Autor in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt.
Jeder kann sich mit einer Aktion beteiligen: Einzelpersonen ebenso wie Literaturzirkel, Vereine, Buchhandlungen, Schulen oder Bibliotheken. Das ausgewählte Buch wird als Sonderausgabe aufgelegt und in den ortsansässigen Buchhandlungen zu einem erschwinglichen Preis verkauft.
Mittlerweile gibt es diese Leseaktionen in fast jeder größeren Stadt. Die Projektidee stammt ursprünglich aus Seattle (USA), 1998 startete dort die überaus erfolgreiche Aktion If All of Seattle Read the Same Book, die schnell von anderen Städten übernommen wurde. Seit 2002 haben sich vergleichbare Aktionen auch im deutschsprachigen Raum etabliert. Vorreiter war Wien mit der Lesekampagne Eine Stadt. Ein Buch, auch in Deutschland wurde die Literaturaktion zeitnah in mehreren Städten unter dem Titel Eine Stadt liest ein Buch umgesetzt.
In Köln findet das Literaturfestival unter dem Namen Ein Buch für die Stadt seit 2003 statt und wird gemeinsam vom Kölner Stadt-Anzeiger und dem Literaturhaus Köln e.V. ausgerichtet. Die Aktion startete erfolgreich mit Irmgard Keuns Buch Das kunstseidene Mädchen.
2017 wurde die neue Lesekampagne Junges Buch für die Stadt ins Leben gerufen, an der sich neben dem Kölner Stadt-Anzeiger und dem Literaturhaus Köln auch die Stadtbibliothek Köln beteiligt. Anlässlich des 100. Geburtstages von Heinrich Böll wurde dessen Glosse Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral, die 2014 als Bilderbuch umgesetzt und von dem französischen Zeichner Émile Bravo illustriert wurde, als Junges Buch für die Stadt ausgewählt.

– GE


Ein Buch für die Stadt Köln von 2003 bis 2022
  • Buchumschlag von Irmgard Keun.
  • Italo Calvino. Buchumschlag von Wenn ein Reisender in einer Winternach. Roman
  • Buchcover
  • Pamuk. Buchumschlag
  • Buchumschlag von Rafael Chirbes
  • Buchumschlag von Kirsten Boie
  • Buchumschlag von Norbert Scheuer
  • Buchumschlag von Jovan Nikolic
  • Buchumschlag von Sumaya Farhat Naser:
  • Buchumschlag von Assaf Gavron
  • Buchumschlag von Michael Köhlmeier
  • Buchumschlag von Jochen Schmidt
  • Buchumschlag von Rafik Schami
  • Buchumschlag von Margriet de Moor
  • Buchumschlag von Anthony McCarten
  • Buchumschlag von Eva Menasse
  • Buchumschlag von Ayelet Gundar-Goshen
  • Buchumschlag von Nadifa Mohamed
  • Buchumschlag von Jackie Thomae
  • Buchumschlag von Nava Ebrahimi
Ankündigung: Am 17. November 2022, 19 Uhr, ist Nava Ebrahimi zu Gast in der Zentralbibliothek, wo sie ihr Buch Sechzehn Wörter (Buch für die Stadt 2022) im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Iranistin Maryam Aras vorstellt. 
Informationen unter: Stadt Köln Veranstaltungen
Beachtenswert: Nava Ebrahimi in Köln  
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Aktuelles

Selim Özdoğan – Mülheimer Stadtgarten

Ein Gastbeitrag von Selim Özdoğan

Der in Köln lebende Autor Selim Özdoğan wurde in Mülheim geboren und verbrachte seine Kinder- und Jugendzeit in diesem multikulturellen und bevölkerungsreichsten Kölner Stadtteil. Er besuchte das städtische Hölderlin-Gymnasium in der Graf-Adolf-Straße und hielt sich in seiner freien Zeit oft im Mülheimer Stadtgarten auf, über den er eine kleine Impression für die LiK.map schrieb. Bis heute ist der Mülheimer Stadtgarten ein wichtiges urbanes grünes Refugium für die Mülheimer Bevölkerung. Die Parkanlage entstand in einer ehemaligen Niederung der Strunde und wurde in den Jahren 1912/1913 angelegt. Eine nördliche Erweiterung in Richtung des Wiener Platzes, erfolgte 1928 nach einem Entwurf des Gartenarchitekten Theodor Nußbaum (1885-1956). – Hier geht es zu Selim Özdoğans Beitrag.

Selim Özdoğan, 2011, bei einer Buchpremiere in der Zentralbibliothek Köln © Foto: LiK-Archiv
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Selim Özdoğan – Mülheimer Stadtgarten

Mülheimer Stadtgarten, Wasseranlage © Willy Horsch CC BY 3.0

Die ersten Freistunden in der Schule habe ich hier verbracht, später auch die geschwänzten Stunden. Wir saßen auf den Lehnen der Parkbänke, die Füße auf der Sitzfläche und haben geredet. Es hätte nichts Schöneres geben können, das Gefühl einem Zwang entkommen zu sein gepaart mit einem Gespräch. 

Nachmittags war ich mit anderen als meinen Mitschülern im Stadtgarten, wir hingen dann auf dem Spielplatz rum, rauchten und es war wichtig die richtigen Bekanntschaften zu haben, wenn man nicht Gefahr laufen wollte in eine Prügelei zu geraten.

Die Leute, die ich aus der Schule kannte und die, mit denen ich nachmittags zusammen war, hatten kaum Berührungspunkte. Doch ich war mit den einen und mit den anderen in diesem Park und habe dort Stunden verbracht, die ich nicht missen möchte.

Mit einem Mädchen, mit dem ich später zusammen war, habe ich auch erst einige Male in diesem Park auf einer Bank gesessen und geredet. Wir haben viel geredet, ich war ganz berauscht davon.

Ein paar Jahre später, als es mir ernst war mit dem Schriftsteller werden, saß ich oft unter einer Kastanie und habe gelesen.

Worte. Wenn ich an diesen Park denke, denke ich immer auch an Worte und die Verbindungen, die sie geschaffen haben. Die Worte haben mich verbunden mit meinen Mitschülern, sie haben mich verbunden mit meinen Freunden, sie haben mich verbunden mit diesem Mädchen, das eine Stufe unter mir auf dieselbe Schule ging

Vielleicht war der Stadtgarten für ein paar Jahre der Ort, an dem ich am meisten gesprochen und zugehört habe.«

– © Selim Özdoğan, 2022


Für die Abdruckgenehmigung des bislang unpublizierten Textes danken wir dem Autor.

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Aktuelles

Nava Ebrahimi – Wiener Weg 20

Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen
N. Ebrahimi: Sechzehn Wörter. Sonderausgabe für »Ein Buch für die Stadt Köln 2022«

»Kein Ort kommt für mich näher an ›Heimat‹ heran als Köln.« Zu diesem Fazit kommt die in Köln aufgewachsene Autorin Nava Ebrahimi, deren Roman Sechszehn Wörter zum »Buch für die Stadt Köln 2022« ausgewählt wurde. Im Gespräch mit Martin Oehlen erzählt sie über ihre Kinder- und Jugendjahre in Köln, über die zahlreichen wechselnden Wohnorte in der Stadt und ihre Beziehung zum Karneval. Hier geht es zum Beitrag.

Ankündigung: Am 17. November 2022, 19 Uhr, ist Nava Ebrahimi gemeinsam mit der Literatur-wissenschaftlerin, Kritikerin und Iranistin Maryam Aras zu Gast in der Zentralbibliothek. 
Informationen unter: Stadt Köln Veranstaltungen  
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Nava Ebrahimi – Wiener Weg 20

Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen
Hochhaus-Siedlung, Wiener Weg, Köln-Junkersdorf, 2022 © Foto: Martin Oehlen

»Ich habe in Köln wirklich an jeder Ecke Erinnerungen«, sagt Nava Ebrahimi im Gespräch. Sie habe »fast überall« in der Stadt gelebt. Ihre Aufzählung der Wohnadressen ist tatsächlich eindrucksvoll: in Chorweiler »in einem der Hochhäuser«, in Junkersdorf am Wiener Weg und im Univiertel »direkt an den Bahngleisen«. Als Nava Ebrahimi »zehn oder elf Jahre« alt ist, zieht die Familie in den Westerwald, was sie als »Katastrophe« bezeichnet. Nach dem Abitur in Bad Ems geht es zurück nach Köln, wo sie die Journalistenschule im Mediapark besucht, die ein paralleles Studium der Volkswirtschaftslehre vorschreibt: »Ich selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, VWL zu studieren.« Das Studium führt zu neuen Wohnungen. Erst einmal für einen Monat ins Herkules-Hochhaus an der Inneren Kanalstraße, dann in die Eintrachtstraße am Eigelstein, in die Mechternstraße beim Neptunbad, in die Vasterstraße in Neu-Ehrenfeld (»Haltestelle Iltisstraße«), in die Pfälzer Straße am Barbarossaplatz und in die Achterstraße im Severinsviertel. »Vor Chorweiler gab es vermutlich auch noch zwei, drei Adressen – aber da war ich zu klein, um mich daran erinnern zu können. Ach so, in der Moltkestraße habe ich auch einmal gewohnt.«

Die Schriftstellerin, die seit 2012 in Graz in Österreich lebt, wurde 1978 in Teheran im Iran geboren und kam im Alter von drei Jahren nach Köln. Ihr erster Roman Sechzehn Wörter (2017), ausgezeichnet mit dem Debütpreis zum Österreichischen Buchpreis und im Jahre 2022 das »Buch für die Stadt« in Köln und der Region, schildert das Leben in zwei Kulturen. Auch der nachfolgende Roman Das Paradies meines Nachbarn (2020) verbindet eine Vergangenheit im Iran mit der Gegenwart in Deutschland. Für ihre Kurzgeschichte Der Cousin wird sie 2021 mit dem Bachmannpreis in Klagenfurt geehrt. 

Hochhaus-Siedlung, Wiener Weg, Köln-Junkersdorf, 2022 © Foto: Martin Oehlen
Nava Ebrahimi beim Kölner Karneval © Foto: Nava Ebrahimi

Besonders wichtig, sagt Nava Ebrahimi, sei für sie die Kölner Wohnung am Wiener Weg 20 in Junkersdorf gewesen, weil sie damals eingeschult worden sei. »Das war eine prägende Zeit.« Warum sie die katholische Ildefons-Herwegen-Grundschule besucht habe, obwohl in demselben Gebäude auch eine staatliche Grundschule gewesen sei, habe sie bis heute nicht ganz klären können. »Das war eigentlich total schräg, weil ich die einzige Muslimin in der Klasse war«, sagt sie. »Ich hatte einen gewissen Sonderstatus, aber ich war da gerne.« Sie habe auch den Religionsunterricht mitgemacht und jeden Freitag den Schulgottesdienst in der Kirche besucht. »Ich war die einzige Schülerin, die nicht zur Kommunion gegangen ist. Aber ich habe immer aus voller Kehle die Lieder mitgesungen. Ich habe mich nie ausgegrenzt gefühlt. Vielleicht romantisiere ich das auch etwas durch die Erfahrungen im Westerwald. Aber ich habe mich in der Grundschule schon sehr wohl gefühlt. Ich habe Karneval mitgefeiert – und das war schon das Wichtigste für die Integration.« Wenn es überhaupt eine Spannung in der Klasse gegeben haben sollte, dann sei diese auf die sozialen Unterschiede zurückzuführen gewesen – die eine Hälfte kam »aus der Hochhaus-Siedlung am Wiener Weg und die andere aus den schönen alten Häusern rund um die Frankenstraße.«

Mit der Literatur sei sie erst spät in Kontakt gekommen, erzählt Nava Ebrahimi. Bücher hätten nach der Emigration aus dem Iran kaum noch eine Rolle in der bildungsnahen Familie gespielt. Zum einen hätten die Eltern »wirklich viel gearbeitet«, zum anderen sei es damals in Deutschland schwierig gewesen, an iranische Literatur zu gelangen. Dann habe sie im Alter von 12 Jahren von einer Cousine einen Band mit Erzählungen von Heinrich Böll geschenkt bekommen. »Eigentlich hatte ich vorher nur wenige Bücher gehabt – und dann gleich so etwas.« Auf diese Weise sei Heinrich Böll zu einer ihrer frühesten Leseerfahrungen geworden. In dem Band sei ihr die Erzählung An der Brücke (1950) besonders nahegegangen. Diese wird auch in ihrem Roman Sechzehn Wörter hervorgehoben. Der aus Persien stammende Dichter SAID, der 2021 in München gestorben ist, habe einmal in einem Interview gesagt, dass dies für ihn eine »persische« Geschichte sei – »und das habe ich auch so empfunden.« Persisch wirke der Böll-Text, weil er voller Andeutungen sei, vieles in der Schwebe lasse und sehr sehnsuchtsvoll angelegt sei.

Erste literarische Versuche unternahm Nava Ebrahimi mit 15, 16 Jahren. »Das waren noch Zwischenformen aus Brief und Tagebuch mit prosaischem Einschlag.« Mit 20 Jahren habe sie begonnen, Texte zu Wettbewerben einzuschicken. Das habe auch oft geklappt. Ansätze zum Debütroman Sechzehn Wörter gab es schon recht früh. Doch dabei blieb es zunächst. Ihre Erfahrung ist: »40 Seiten schreibt man schnell mal runter. Aber wenn man an den Punkt kommt, an dem man sich wirklich Gedanken über die Form und die Struktur machen muss, wenn es also richtig Arbeit macht, lässt man es dann oft liegen – zumal dann, wenn man noch einen anderen Beruf hat.« Den hatte Nava Ebrahimi in Köln: Sie war unter anderem tätig als Journalistin für die Financial Times Deutschland und die Stadtrevue. Erst nach dem Umzug nach Graz im Jahre 2012 fand sie die Zeit zum Schreiben, weil sie in Österreich anfangs »niemanden kannte, keinen Job hatte und mit dem Baby zuhause saß.«

Ein Anlass, sich auf Sechzehn Wörter einzulassen, sei ihre iranische Großmutter gewesen: »Sie ist eine wichtige Frau in meinem Leben und ein ganz, ganz ambivalenter Mensch.« Mit der Niederschrift des Romans habe sie versucht, diese Person zu fassen zu kriegen. Und dann wollte Nava Ebrahimi auch noch erzählen von einem Leben in und mit zwei Kulturen, der deutschen und der iranischen. »Ich bin immer relativ ›allein unter Weißen‹ gewesen, um den Buchtitel von Mohamed Amjahid zu zitieren. Ob auf der Grundschule in Junkersdorf oder in Bad Ems, wo ich Abitur gemacht habe, war ich meist die einzige Nicht-Weiße, die einzige Nicht-Deutsche beziehungsweise Nicht-Deutsch-Deutsche.« Ein Doppelleben in zwei Welten sei es gewesen, und sie habe nicht recht gewusst: »wohin damit.« Zwar gebe es im Literatur-Kanon Texte über ein solche existentielle Zerrissenheit, über die Erfahrung, »nicht zu wissen, wo man hingehört.« Damit habe sie sich ein Stück weit identifizieren können. »Aber die speziellen Konflikte und Widersprüche, die ich aushalten musste, habe ich nirgends repräsentiert gefunden.« So sei das Schreiben auch ein Versuch gewesen, sich mitzuteilen und zu finden. Nava Ebrahimi hat eine Weile in Hamburg gelebt. Das war noch vor dem Umzug nach Graz:

»Ich fand Hamburg toll, habe das wirklich geliebt und das ist für mich die schönste und liebenswerteste Stadt in Deutschland. Ich bin dann aber immer wieder zu Prüfungen an die Uni nach Köln gefahren – und wenn ich dann den Dom gesehen habe, ist mir das Herz aufgegangen. Obwohl ich mich so wohl in Hamburg gefühlt habe, bin ich dann doch nach Köln zurückgezogen. Es hat eben etwas gefehlt. Da habe ich gemerkt, dass ich für Köln mehr Gefühle habe als für einen anderen Ort.«

Nava Ebrahimi

Das liege daran, wiederholt Nava Ebrahimi, »dass ich in Köln an jeder Ecke Erinnerungen habe.« Spontan fällt ihr die markante Neonreklame Er trinkt, sie trinkt!  am Rudolfplatz ein, die sie als Kind, in der Straßenbahn-Linie 1 sitzend, beeindruckt habe. Nava Ebrahimi fasst zusammen: »Kein Ort kommt für mich näher an ›Heimat‹ heran als Köln.«

– © Martin Oehlen, 2022

Martin Oehlen

geb. 1955 in Kaldenkirchen, kam 1980 nach seinem Studium zum Kölner Stadt-Anzeiger. 1989 wurde er stellvertretender Leiter der Kulturredaktion; gemeinsam mit Reiner Hartmann übernahm Oehlen 1994 die Leitung des Ressorts Kultur; ab 2001 war er alleiniger Ressortleiter. Besonders verdienstvoll war sein Engagement für die Aktionen »Kultursonntag«, »Ein Buch für die Stadt« und für das monatliche »Büchermagazin« des Kölner Stadt-Anzeiger. Als Autor und Rezensent arbeitet er auch nach seiner Pensionierung (2019) für den Kölner Stadt-Anzeiger; gemeinsam mit Petra Pluwatsch betreibt Oehlen den Literaturblog Bücheratlas.

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Aktuelles

Das erste Paradies

Über das Geburtshaus von Hilde Domin – und ihr Zuhause in Köln

Riehler Straße 23 © Foto: Willy Horsch, CC BY 3.0

Die gebürtige Kölner Lyrikerin und Schriftstellerin Hilde Domin verbrachte in ihrer Geburtsstadt glückliche Kinder- und Jugendjahre, die ein tragendes Fundament für ihr Leben im Exil und die weiteren Stationen ihres Lebens bildeten: »Irgendwann war ich zuhause, und auch gut zuhause. Davon lebe ich das Leben lang. Das war in Köln, in der Riehler Straße 23. Dort haben meine Eltern mich mit dem Vertrauen versorgt, dem Urvertrauen, das unzerstörbar scheint und aus dem ich die Kraft des ›Dennoch‹ nehme.« – Andreas Rossmann, von 1986 bis 2017 Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), folgt in seinem Beitrag Domins Spuren in Köln.

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Das erste Paradies

Über das Geburtshaus von Hilde Domin – und ihr Zuhause in Köln

Ein Gastbeitrag von Andreas Rossmann

Der Text auf der Tafel am Haus Riehler Straße 23 könnte knapper nicht sein:

Kein Wort zu viel. Dabei gibt es mehr dazu zu sagen. Viel mehr. Zu viel, als dass es auf eine Tafel passen würde.

Die Tafel wurde am 3. Dezember 2005 angebracht. Mehr als siebzig Jahre, nachdem Hilde Domin, die erst 1954 aus dem Exil, das zunächst nach Italien, später nach England und schließlich, für die letzten vierzehn Jahre, in die Dominikanische Republik führte, aus dem Haus ausgezogen war. Mehr als 95 Jahre, nachdem sie hier als Hildegard Dina Löwenstein geboren worden war. Keine drei Monate, bevor sie am 22. Februar 2006 in Heidelberg, wo sie seit 1961 lebte, verstarb. Die kleine Feier in windiger Kälte auf dem Treppenaufgang fand in ihrer Anwesenheit statt. Es war ihr letzter Besuch in Köln.

Das Anbringen der Tafel ist einer Bürgerinitiative zu verdanken, die Anregung ging von der Buchhändlerin Ingeborg Zanders (1921-2013) aus, die Hilde Domin seit 1961 freundschaftlich verbunden war. Dass inzwischen die Psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf hier residiert, passt ins Bild: In dem Haus, das an die Kindheit einer Künstlerin erinnert, ist die Wissenschaft zu Hause, deren zentrales Thema die Geschichte der Kindheit ist. Zugleich macht die Tafel auf ein Schicksal aufmerksam, wie es auch die Bewohner anderer Häuser in diesem Viertel erlitten haben; die von Gunter Demnig verlegten Stolpersteine erinnern daran.

Leser von Hilde Domin kennen diese Geschichte. Zwei Kapitel ihrer Autobiographie Von der Natur nicht vorgesehen (1974) handeln davon. Im Eingangsporträt »Mein Vater. Wie ich ihn erinnere« erzählt die Dichterin, wie sie von hier aus mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, während die Mutter sie aus der Straßenbahn (es war schon damals die Linie 16, doch die Schienen lagen noch oberirdisch), überwachte und die Risiken abschätzte; wie sie mit dem Vater, einem promovierten Juristen und angesehenen Anwalt, der am Kaiser-Wilhelm-Ring 3 seine Kanzlei hatte, wenn sie zu Fuß gingen, über seine Fälle, Theaterstücke oder ihre Schulaufgaben sprachen; wie er mit ihr sonntags das Wallraf-Richartz-Museum oder den Kunstverein besuchte oder mit ihr morgens vor der Schule zum Schwimmen ging – »erst hatte ich eine Büchse auf dem Rücken, dann einen Korkgürtel um den Bauch. Damals ging man in kleine hölzerne weißgetünchte Badeanstalten auf dem Rhein. Unsere hieß Noldes …« Hier ist die Dichterin zur Welt gekommen; von hier aus ist sie auch in die Tanzstunde gegangen, wo der zwei Jahre ältere Hans Mayer ihr Partner war; von hier aus begann sie, sich die Welt zu erschließen.

»Der Stadtteil«, so schreibt Heinrich Böll in dem Text Hülchrather Straße Nr. 7, wo – gleich um die Ecke – seine letzte Kölner Adresse war, »ist zum größten Teil nach 1890 erbaut; Zeit einer ersten Bodenspekulation; Jugendstilfassaden, die Straßennamen klingen noch nach dem Triumph, der damals erst zwanzig Jahre zurücklag und noch frisch im Ohr klang: Sedan, Wörth, Belfort, Weissenburg; eine selbstbewusste Zeit, die unerschrocken den beginnenden Jugendstil in seinen verschiedensten popularisierbaren (vulgarisierbaren) Formen aufnahm und eine bemerkenswerte Vorliebe für langhaarige Weiber entwickelte, die über Haustüren melancholisch den Eintretenden begrüßen oder mit gekonnter Tristesse Balkone stützen.« Riehler Straße, nur benannt nach dem nächstnördlichen, 1888 eingemeindeten Vorort, hebt sich erfreulich ideologiefrei davon ab.

Als die Löwensteins, eine liberale, wohlhabende, assimilierte jüdische Familie, hierherzogen, war die Neustadt gerade erst im Halbkreis um die Altstadt gelegt worden. 1881 hatte Josef Stübben mit der Planung begonnen, die 1910 abgeschlossen wurde; erst im Jahr darauf wurde das neubarocke Oberlandesgericht, damals der größte Justizpalast in Preußen, am Reichensperger Platz fertig. Die Riehler Straße hatte noch große Bäume und einen Fußgängerweg in der Mitte: Etwa auf halber Strecke vom Reichensperger zum Deutschen Platz, wie der Ebert-Platz noch hieß, lag das Haus mit der Nummer 23 im Gerichtsviertel, das im Westen von der Neusser Straße und im Osten von der Riehler Straße eingefasst wurde. Besser, standesgemäßer konnte ein Jurist damals in Köln nicht wohnen.

Schon im April 1929 verließ Hilde Domin das Elternhaus, um an der Universität Heidelberg zunächst »Jura, wie mein Vater, natürlich« zu studieren. Zum Wintersemester wechselte sie an die Universität Köln, wo sie sich für Volkswirtschaft und Soziologie einschrieb, im Herbst 1931 an die Friedrich-Wilhelm- (heute: Humboldt-)Universität nach Berlin, zum Sommer 1931 erneut nach Heidelberg, wo sie den Archäologen und Kunsthistoriker Erwin Walter Palm (1910-1988) kennenlernte, mit dem sie bereits im Herbst 1932, noch vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, nach Italien auswanderte und ihr Studium in Rom und Florenz fortsetzte und abschloss. »Ich hatte keine ›repressive‹ Kindheit, im Gegenteil«, schreibt Hilde Domin in Mein Vater.

Riehler Straße 23, Foto Ludwigs 1973 © RBA 154696

Eine recht genaue Vorstellung von der Wohnung, ihrer Größe und ihrem Grundriss, ihrer Ausstattung und ihrem Komfort, gibt ein späteres, »Meine Wohnungen – ›Mis moradas‹« überschriebenes Kapitel: »Wir wohnten im 2. Stock, und mein Bruder und ich wurden ins Erdgeschoss oder ins Hochparterre getragen, wenn Fliegeralarm war, während des Ersten Weltkriegs […]. Das Speisezimmer hatte bunteingelegte Fenster, damit man den Hinterhof und die Brandmauer nicht sah, die man vom Schlafzimmer aus doch gut kannte, und war mit Schwarzer Eiche getäfelt.«

An die großzügige Wohnung (»mit zehn oder elf Zimmern«) erinnerte sich Hilde Domin in vielen Einzelheiten und Kleinigkeiten: »Das Zimmer nach vorne, zur Riehlerstraße heraus, das durch eine fast wandbreite Schiebetür mit dem Esszimmer verbunden war, und das jetzt offensichtlich als Nähzimmer diente, war in meiner ganzen Schulzeit sicher das wichtigste für mich: Dort stand der hohe glasverkleidete Bücherschrank, ebenfalls aus schwarzer Eiche, und oben drauf eine Bronzebüste, ein Donatellokopf. Rechts war ein schmaler Seitenschrank, in dem Vater die Liköre und die Zigaretten hatte, links Mutters Schrank, in dem sie das Nähzeug und den Schlüsselkorb verwahrte, und ich weiß nicht, was sonst noch alles. […] Im Esszimmer standen riesige schwarze Möbel, aus dem Nürnberger Deutschen Museum kopiert, und darin lagen in rotem Filz die Bestecke, und die Servierbestecke, und was man damals zur Heirat geschenkt bekommen hatte und noch von Eltern und Schwiegereltern dazu erbte. Und das Rosenthalporzellan mit dem goldenen Randstreifen (oder war es Meißen), das außerordentlich modern gewesen sein muss, denn ich stelle es mir heute noch chic vor. Benutzt wurde es nur zwei- oder dreimal im Jahr, bei den förmlichen Einladungen. In diesen Schränken gab es auch die großen Keksbüchsen, was sicher alleine ein Grund war, die Schlüssel abzuziehen. Einen Teil des Silbers und des kostbaren Porzellans, wie auch der Perserteppiche, bekamen wir unsrerseits zur Hochzeit geschenkt…«

Als Hilde Domin »1954 zum erstenmal nach zweiundzwanzig Jahren wieder nach Köln kam«, fielen ihr viele Veränderungen auf: »Die Wohnung war halbiert. In den vorderen Zimmern, den ehemaligen Wohnzimmern, wohnte eine Schneiderin. Unsere Schlafzimmer und den langen Gang, auf dem wir Stelzen gelaufen und Holländer gefahren waren bei schlechtem Wetter oder Rollschuh, wie die Kinder über uns und die Kinder unter uns, schön gehallt muss es haben, und Turngeräte waren auch auf dem Gang, diesen Teil der Wohnung konnte ich nicht sehen.« Einen anschaulichen Eindruck von der repräsentativen Gediegenheit der Wohnung vermittelt ein Foto auf der Website der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft, das den breiten Gang mit Jugendstil-Kronleuchter, verzierter Holztäfelung, großem Garderobenspiegel und Salontüren mit Glasdekor zeigt.

Die alte Colonia, die Stadt, wie sie war, ist, darüber haben Heinrich Böll und andere geschrieben, in den Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs untergegangen. Nicht viel mehr als die gotische Kathedrale ist stehengeblieben. Hilde Domins Gedicht Köln, das 1964 in ihrem dritten, Hier betitelten Lyrikband erschienen ist, erinnert daran:

Köln

Die versunkene Stadt
für mich
allein
versunken.

Ich schwimme
in diesen Straßen
Andere gehn.

Die alten Häuser
haben neue große Türen
aus Glas.

Die Toten und ich
wir schwimmen
durch die neuen Türen
unserer alten Häuser.

Ein dezidiert subjektiver Blick wird formuliert: »Die versunkene Stadt / für mich / allein / versunken.« Auch wie sich das lyrische Ich dort bewegt, »ich schwimme« umfasst beides, ohne festen Boden unter den Füßen und unsicher in der Orientierung, unterscheidet sich: »Ich schwimme / in diesen Straßen / Andere gehen.« Der Zugang ist wieder möglich, doch er hat sich verändert: »Die alten Häuser / haben neue große Türen / aus Glas.« Die Dichterin sieht sich und stellt sich auf die Seite der Opfer, solidarisiert sich mit ihnen: »Die Toten und ich.« Mit ihnen kehrt sie zurück. »Wir schwimmen / durch die neuen Türen / unserer alten Häuser.« Nur im Gedenken an die Toten lässt sich »die versunkene Stadt«, die Vergangenheit, wahrnehmen und verstehen, lassen sich »unsere(r) alten Häuser«, zu denen es neue Zugänge gibt (»durch die neuen Türen«), wieder erreichen.

Hilde Domin kann nicht unbelastet zurückkehren, auch wenn »unsere(r) alten Häuser« sich wieder öffnen (lassen) und »neue große Türen aus Glas« haben, wie sie sie am Gericht am Appellhofplatz gesehen hat. Köln ist für sie nicht Heimat und doch mehr als ein realer Ort, auch ein Erinnerungsraum. In einem Brief an ihren Verleger Klaus Piper schreibt sie 1981: »Köln ist die Stadt meiner Kindheit, in Köln kann ich noch meinen Eltern auf der Straße begegnen, in Köln spricht man Kölsch, Köln ist nicht ganz wirklich für mich, hat den Traumcharakter nie ganz verloren. Lebte ich dort, es wäre anders.« Köln ist für Hilde Domin nicht mehr Heimat, das entspräche weder ihrer Leidenserfahrung noch ihrem Selbstverständnis als Schriftstellerin. Für die »Dichterin der Rückkehr« (Hans-Georg Gadamer) ist Heimat, wie es in dem Gedicht Ars longa heißt, »immer das Wort / das heilige Wort«. In ihrer Dankesrede auf den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund 1983 sagte sie: »Der Glaube an das Wort, an die Dauer des Worts, und im besonderen an das Überstehen des deutschen Worts noch im Munde derer, denen die Zugehörigkeit zu Deutschland und zum deutschen Worte abgesprochen wurde, führt uns hier zusammen. Dies Wort war unsere Heimat, als wir keine andere hatten.« Oder knapper, in einem Gedicht für Christa Wolf: »Hand in Hand mit der Sprache / bis zuletzt.« In Gesprächen kam sie mehrfach darauf: »In irgendeiner Weise ist Köln mein Zuhause. Heimat wäre ein zu großes Wort. Die deutsche Sprache ist meine Heimat.«

Es ist Zufall, dass Hilde Domin, als sie 1954, nach zweiundzwanzig Jahren, wieder nach Köln kam, einen Teil der Wohnung nicht wiedersehen und einen anderen Teil nicht wiedererkennen konnte: »Diese drei Zimmer zur Straße waren völlig verändert, auch die Stuckdecken im Jugendstil waren verschwunden, ich erinnere mich nicht mehr an das Wiedersehen mit ihnen, das im kommenden Jahr auch schon wieder zwei unvorstellbar lange Jahrzehnte zurückliegt.« Und doch ist dieser Zufall ähnlich bezeichnend wie der Umstand, dass hier heute eine Wissenschaft wohnt, deren Therapieverfahren bei frühkindlichen Prägungen und Erlebnissen der Jugend ansetzen.

Hilde Domin hatte in der Riehler Straße 23 eine, so schildert sie es selbst, schöne, behütete und glückliche Kindheit, auch die »erschreckende Genauigkeit«, mit der sie sich an die Wohnung erinnert (»die alte verschnörkelte Türklinke«) und sie nach zweiundzwanzig Jahre Veränderungen (»Meyers Klassiker«) registriert, verweist auf eine starke emotionale Bindung. Die einzige Erfahrung, die dem widerspricht, der Fliegeralarm während des Ersten Weltkriegs, bei dessen Beginn sie fünf Jahre alt war, findet eine bemerkenswert marginale Erwähnung.

Zuhause, nicht Heimat. Den Unterschied reflektiert Hilde Domin in Das zweite Paradies, ihrem einzigen Roman (»in Segmenten«), der 1968 erschienen ist: »Das Zuhause hat einem nicht wehzutun wie ein Hexenschuss oder ein hohler Zahn. Das Zuhause ist da, und man fühlt es nicht. Wenn man es erst fühlt und betastet, wenn man es erst in die Hand nimmt wie eine zerbrechliche Kostbarkeit, die gleich hinfallen kann – die auch vielleicht schon einmal geleimt wurde –, ist es mit dem Zuhause vorbei. Es ist etwas, was man abgenommen bekommt. Wenn man Glück hat, bekommt man es wieder, aber es ist zuviel Erstaunen dabei. Man freut sich zuviel, als dass es ganz wirklich wäre. Als müsse man dauernd ‚ich atme‘ denken. Das Atmen wäre dann ein Genuss. Eine schreckliche Vorstellung. Das Trauma macht überempfindlich für die Freude. Aber es ist etwas Schizophrenes an ihr. Wie das Zuhause ist die Liebe, wenn man es zuerst begriffen hat, dass sie etwas Widerrufliches sein kann. Das erste Paradies, das zweite Paradies …«

In diesem Sinn war das Haus in der Riehler Straße 23 für Hilde Domin das Zuhause, das erste Paradies. Alle späteren Wohnungen hat sie als »Fluchtwohnungen« bezeichnet. Das Zuhause, aber nicht Heimat, das ergibt sich auch aus dem berühmten Zitat von Ernst Bloch, das als Motto vorangestellt ist: »Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«

Die Wirklichkeit hat die Verlusterfahrung, die Hilde Domin mit dem Haus ihrer Kindheit verbindet, so banal wie einprägsam ins Bild gesetzt. »Kürzlich«, so schreibt sie in »Meine Wohnungen«, »fuhr ich an dem Hause vorbei. Gerade wunderte ich mich noch, dass Böll chauffieren kann, da waren wir schon um die Ecke, und ich vermisste den Mandelbaum am Eingang. ›Ja, da steht jetzt die Mülltonne‹, sagte er sofort, denn er hatte den Mandelbaum gekannt.«

– © Andreas Rossmann, 2022

Andreas Rossmann

geb. 1952 in Karlsruhe. Von 1986 bis 2017 Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Nordrhein-Westfalen mit Sitz in Köln, seit 2018 freier Autor. Publikationen u.a.: Max-Ernst-Museum: Van den Valentyn – Architektur, SMO-Architektur, 2005; Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen, 2012; Mit dem Rücken zum Meer. Ein sizilianisches Tagebuch, 2017; Das kann nur Köln sein. Ein Glossar, 2020.

Literatur
  • Hilde Domin: Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiographisches. München 1974.
  • Der Text geht auf die Rede zurück, die Andreas Rossmann am 3. Dezember 2005, als die Tafel am Geburtshaus von Hilde Domin angebracht wurde, gehalten hat. In den Zitaten werden (die abweichende) Interpunktion und Rechtschreibung beibehalten.
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Aktuelles

Irmgard Keuns Heimathafen – Eupener Straße 19

Historische Ansichtskarte, Köln-Braunsfeld, Eupenerstraße

»Es war grauenhaft, wie wir hier gehaust haben – es wurde immer schlimmer. Es regnete nicht, es goss durch die Decke in den armseligen Küchenraum. Möbel, Herd und Matratzen wurden eines Morgens mit Gewalt fortgeholt usw. Die Eltern schlafen augenblicklich in einem Zimmer in der Nähe. Ich schlafe in der Küche auf einem Notbett wie ein Fakir auf den nackten Sprungfedern, ohne Keile. Aber! Über Küche und Gartenzimmer ist eine Asphaltdecke gezogen worden und die Küche ist jetzt warm und trocken«, schrieb Irmgard Keun am 3. April 1946 aus ihrem kriegsbeschädigten Elternhaus in der Eupener Straße 19. Das Haus in Köln-Braunsfeld war Keuns Lebensmittelpunkt und Schreibort bis in die 1960er Jahre. Michael Bienert begab sich auf Spurensuche, hier geht es zu seinem Beitrag.

Ankündigung: Buchvorstellung am 10. Mai 2022, um 19 Uhr, in der Zentralbibliothek
Irmgard Keun: Man lebt von einem Tag zum andern. Briefe 1935 bis 1948. 
Informationen unter: Stadt Köln Veranstaltungen