Merlostraße

Vilma Sturm beschrieb in dem Erinnerungsband Barfuß auf Asphalt ihren Wohnortwechsel von Königsstein i. T. nach Köln. 1954 erhielt sie eine Anfrage von Pater Rainulf Schmücker, Chefredakteur und Leiter des 1953 in Köln gegründeten »Katholischen Rundfunk-Instituts« (ab 1973 »Katholisches Institut für Medieninformation«). Er bat sie um Mitarbeit an der Redaktion der »FUNK-Korrespondenz«, ferner bot er ihr die Möglichkeit, Hörspiele und Features mit religiösen Inhalten und Morgenandachten für den Kirchenfunk zu schreiben. Rückblickend schrieb Sturm, dass die Hörspiele Gelegenheitsarbeiten waren, »Lückenbüßer, vielfach dramatisierte religiöse Erzählungen und Romane, nicht der Rede wert. Eher die Morgenandachten; sie brachten mir so viel Hörerpost ein, wie ich sie auch nach den erfolgreichsten Zeitungsbeiträgen nicht bekommen habe. Ich hatte keinen Augenblick die Vorstellung gehabt, die Arbeit im Institut würde mir angenehm sein. Sie bedeutete: in der Stadt wohnen, täglichen Dienst im Büro, Beschäftigung mit einem Stoff, der mich kaum interessierte, der mir fremd war, gegen den ich Widerstand spürte. Aber die Aussicht auf ein normales, festes, mich aller Existenzsorgen enthebendes Gehalt war verführerisch.«
Schmücker besorgte ihr nicht nur eine Stelle, die den Lebensunterhalt der alleinerziehenden Mutter einer Tochter sicherte, sondern auch noch eine Wohnung im Agnesviertel, Merlostraße 22, in der Sturm dann 30 Jahre lang lebte.
Diese so bescheidene Wohnung in Köln, zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad, ohne Garten, ohne Balkon, mit Ofenheizung, erfüllte langgehegte Wünsche. Nach zehn Jahren wieder ein Badezimmer! Ich badete unablässig, unablässig durchmaß ich die Räume und konnte es nicht fassen, daß ich darüber die Herrin sein sollte. Mächtige Lindenbäume standen vor dem Fenster und schickten grünes Licht in das Wohnzimmer. Heute sind ihre Reihen gelichtet, früh werfen sie ihr Laub ab, stehen im September schon kahl, krank, leidend, ihre Todesstunde ist nahe. . .
Vilma Sturm, Barfuß auf Asphalt
Die Wohnung wurde mit dem Vorhandenen eingerichtet, das Schlafzimmer mit diesen kastenartigen Möbeln aus Rüsterholz, die jetzt niemand mehr leiden mag; der Wohnraum mit den alten Bücherregalen aus dem Elternhaus, Couch, Sesselchen und Nierentisch. Nur wenig habe ich im Lauf der nächsten fünfundzwanzig Jähre dazugekauft, nur weniges ausgewechselt – zuerst natürlich den Nierentisch -, einige alte Stücke geerbt. Es ist peinlich alles vermieden, was aufs Prächtige hinzielen könnte. Wertvoll sind, außer der Truhe, dem Glasschrank und dem Hausaltar, nur die Bilder: die expressionistische Graphik, die ich vom Vater bekam, ein schönes Blatt von Otto Mueller, außerdem Heckel, Kirchner, Schmitt-Rottluff und Nauen, dazu ein Grieshaber, den Heinrich Böll mir zum Geschenk machte. Die Wohnung hatte von Anfang an etwas Karges und Strenges – ich hatte leere Wände gern.
Vilma Sturm bereute den Umzug nach Köln in keiner Weise, im Gegenteil, hier bekam sie Kontakt zu verschiedenen politischen Gruppierungen und stellte sich, nach eigenem Bekunden, den Herausforderungen der Zeit: Sie schrieb und demonstrierte gegen den Vietnamkrieg, setzte sich für Fürsorgezöglinge, Obdachlose und Haftentlassene ein und gehörte zu den Mitbegründern des »Politischen Nachtgebets«. Wichtig waren für Sturm vor allem die persönlichen Begegnungen und die daraus entstandenen Freundschaften mit politischen Weggefährten, zu denen u.a. Dorothee Sölle und Heinrich Böll zählten.
GE
Gabriele Ewenz, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Leiterin des Heinrich-Böll-Archiv und des Literatur-in-Köln Archiv (LiK)
Literatur
Siehe: Sturm: Barfuß.