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Anne Dorn: Gedanken zur Grosstadt

Noch immer bin ich neugierig, zu erfahren, was auf mich zukommt, wenn ich der Stadt entgegengehe. Einmal möchte ich ihr schlagendes Herz sehn…
Es gibt in der Malerei eine Richtung, die man Pointillismus nennt. Die Pointillisten haben alle Dinge aus ungemischten Farbpunkten zusammengesetzt oder umgekehrt, alle Dinge in Punkte aus ungemischter Farbe aufgelöst. In der Hohe Straße finden akustisch-pointillistische Ereignisse statt: Das große, amorphe Dröhnen der Stadt wird in punktuelles Absatzgeklapper aufgelöst. Ich habe einmal als Köln-Besucher im Hotel Callas in der Hohe Straße geschlafen. Die Glocken der Kirchen weckten mich mehrmals, ich drehte mich um und schlief weiter. Gegen neun Uhr überfiel mich eine merkwürdige Unruhe: Wie jemand, der den Verdacht schöpft, in seinem Hause zernagten Holzwürmer die Tragebalken, genauso beunruhigt merkte ich auf ein klopfendes, mitteilsames Geräusch. Es drang aus dem Straßenschacht zur vierten Etage. Ich trat ans Fenster: Menschen! Nichts weiter, als Menschen, die laufen. Aber was heißt da – ›nichts weiter‹?
Eine melancholische Unruhe sickert mit dem Menschenstrom vom Fußgängercentrum in die kleineren Gassen und auf die Plätze. Habe ich wirklich das Herz der Stadt passiert, oder ist es heute anderswo zu finden? Vielleicht liegt es vor meiner Haustür. Ich sehe zum Fenster hinaus auf die Straße. Da kommt gegen elf Uhr vormittags eine weiße Hochzeitskutsche mit zwei der letzten Pferdchen angeprescht. Die Ampel auf der Fahrbahn jenseits der Baumreihe steht auf rot, der Hochzeitskutschenkutscher zügelt die Pferde, die Kutsche hält, der rechte Schimmel bricht vor der roten Ampel zusammen, seine Hufeisen klappen ein letztes Mal, Funken sprühn, die Braut und der Bräutigam verlassen die Hochzeitskutsche, wie man ein brennendes Haus verläßt, Frack und Schleier wehn der Agneskirche zu, tatüütataa die Tierärzte kommen, tatüütataa die Feuerwehr kommt, zwölf behelmte Männer schreiten mit ihrer Bahre auf das Pferd zu, plötzlich umsteht eine schwarze Wolke von Menschen die Straßenecke, weil so viele Kölner Bürger ein Pferd mögen, schon gar ein umgefallenes. Ich sehe aus meinem Fenster auf einen brodelnden Menschenklumpen, – das Herz der Stadt? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, die Stadt hat ein Herz. Am starken Wechsel von Belebung und Belebtsein habe ich teil.


Literatur: Dorn: Gedanken