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Erasmus Schöfer: Vogeltheater in der Südstadt

Der Rhein ist sehr flach gefallen. Durch das grüne Bogenskelett der Südbrücke sehe ich vor den Poller Wiesen das nackte, steinige Ufer mit den braungrauen Basaltbuhnen. Wenn ich scharf hinschaue, erkenne ich die Bewegung des Quecksilberstroms, den kein Motorschiff belebt. Auf der Rheinuferstraße kaum mal ein Auto — das sonst ständig hörbare Rauschen der tausend Reifen ist verstummt, und keiner der täglich mehrmals zwischen Bonn und Düsseldorf dem Strom folgenden Hubschrauber zerhackt mir die Stille. Selbst das alles übertönende Dröhnen der Züge auf der eisernen Brücke bleibt aus, als ob auch die Bundesbahn meinen Sonntagmorgen heiligen wollte.

Von einem meiner späten winterlichen Sonnenaufgänge, drüben, hinter dem Poller Hochhaus, die mir oft die trüben Jahreszeiten so königlich vergolden, kann ich heute nicht berichten, noch die unfaßlich vielgestaltigen, bewegten Himmelslandschaften im Bilderrahmen meines Fensters skizzieren, denn eine amorphe, grauweiße Wolkendecke verhängt die Szene. Vor der ragt, kahl und zergliedert, die reglose Silhouette der großen Platane auf — weit hinaus über die Höhe meiner Wohnung im fünften Stock. In ihrer Krone hüpfen flatternd die beiden eng verheirateten Elstern herum, zanken sich mit einer Krähe, bis sie sich entschließen, den Streit zu beenden, direkt auf mein Fenster zufliegen, mit ihrem seltsam unregelmäßigen Flügelschlag, und erst unmittelbar vor der Hauswand, ihre Geschwindigkeit nutzend, den langen Schwanz und die Flügel ausgebreitet, hochziehen auf die Fernsehantenne. Ich höre ihr aufgeregtes Keckem durch das geschlossene Fenster.

Ein paar Dutzend Stare, unverkennbar durch ihre spitzen Dreiecksflügel, sind eben flattrig in einen Seitenast der Platane eingefallen, hocken jetzt dort wie schwarze Winterfrüchte. Nicht wegzudenken aus meinem Fensterbild auch die graubunten Haustauben, in Schwärmen, einzeln, zu Paaren. Sie scheinen ständig in irgendwelchen Geschäften unterwegs, und sei es nur dem, mir ihre Flugkünste, die vielfältigen Formen ihrer Flügelbewegungen zu zeigen, die viel zahlreicher sind, als es die gedruckten und gemalten Friedenstauben ahnen lassen.

Übertroffen werden sie nur von den Mauerseglern, deren hektische Lufttänze ich mal hoch unter den Wolken, mal unmittelbar vor dem Fenster beobachten kann, und ihr durchdringendes, schrilles Gellen dazu hört sich an, als wollten sie das ganze Severinsviertel darauf aufmerksam machen, welche Lust sie an ihrem scheinbar schwerelosen Fliegen und Jagen haben. Aber die geben jetzt ihre Vorstellung in Afrika. Dafür tschilpt ein Spatz aus der Regenrinne, aufgeregt klingt es, noch ein zweiter fällt ein, sie steigern sich zu einer zornigen Schimpftirade, offenbar das Begleitgeschrei zum Sonntagsausflug der Katze eines Nachbarn über die Dächer.

Diagonal durchs Bild, vom Rhein herüber, ein Entenzug, schon von weit erkennbar an der sich ständig verändernden, aber immer keilförmigen Gruppierung der Vögel, und auch der lange Hals, die weit hinten am Körper angesetzten Flügel, geben diesem Flug etwas Vorwärtsstrebendes, Zielgerichtetes. Da werden keine großen Kurvenfaxen gemacht — man ist unterwegs zum Volkspark in einer ernsthaften Angelegenheit.

Es ist ständig etwas los in meinem eintrittsfreien Lufttheater. Die weißschwarzen Silbermöven gehören längst nicht mehr nur zu den Küsten, sitzen in Scharen auf den Feldern längs der Autobahnen und kreisen als Aasvögel über den Müllkippen wie über den Ausflugsdampfern der Köln-Düsseldorfer, weiß- gebleichte Krähen. Aber wie sie jetzt gelassen, gewichtig, vom Strom hochziehen über die Brücke, ist ihrem Flug anzusehen, daß er die großen Winde gewohnt ist. Wenn die Herbst- und Frühlingsstürme über Köln fegen, dann sind nur noch sie am Himmel, weit verteilt in den brausenden Lüften, sich hochreißend, plötzlich abstürzend, segelnd auf ihren schmalen Sichelflügeln, im Spiel mit den unsichtbaren Windsbräuten, machen die Räume sichtbar.

Ich will nicht behaupten, daß ich heute den Besuch eines schnellen Sperbers oder eines ruhig in seinen hohen Kreisen segelnden Bussards bekommen hätte — diese Solisten verstehen es, sich kostbar zu machen, und die herbstlichen Ketten der großen Zugvögel, Wildgänse und Kraniche, habe ich nur in seltenen, mich dann seltsam erregenden Augenblicken entdeckt. Aber wenn ich jetzt ans Fenster trete, in den kleinen Römerpark hinabschaue, kann ich noch das graublaue Ringeltaubenpärchen mit seinen schönen schlanken Hälsen entdecken, und Kohlmeisen, Blaumeisen, Buchfinken, und Amseln — die gehören zur täglich garantierten Besetzung meines Ensembles. Da kann ich schon noch etwas warten, bis die schwarzen Gesangsmeister wieder oben auf der Antenne sitzen, ihren Schnabel in den Abendsonnenglanz stecken und den Frühling mit ihren unvergleichlichen Koloraturen herbeisingen.

Dann wird auch der Adler wieder vom Baumlaub des Parks verborgen sein, der furchterregend und sehr kriegerisch auf seiner Säule die bronzenen Schwingen über das Andenken der sinnlos umgebrachten Soldaten breitet. Die Stadt hat das alte Fort mit Bäumen und Rosen bepflanzt, zwischen den Kasematten einen Abenteuer-Spielplatz eingerichtet, aber der finstere Vogel blieb, droht noch immer wie ein apokalyptischer Bomber den zimmernden Kindern und boulespielenden Italienern. Vor zwei Jahren hatte die Friedensinitiative bei einem Stadtteilfest ihn mal vorübergehend als Taube verkleidet. Inzwischen hat der Stadtrat beschlossen, den Hindenburgpark Friedenspark zu nennen. Seitdem gehe ich noch lieber dort spazieren und versuche, den Adler als Denkmal für den auch nicht freiwillig ausgestorbenen König der Lüfte zu sehen. Plötzlich, drüben am Strom, eine langsame, weiße Bewegung, dicht überm Wasser, unter der Brücke durch – zwei Schwäne! Dieser schwere Flügelschlag, der überlange Hals, der den Weg sucht, selbst auf die Entfernung erkennbar — das sind zwei Luftschiffe, die ihren mächtigen Körpern das Fliegen abgetrotzt haben. Ich denke, sie sind das Sonntagsgeschenk, statt Sonnenaufgang, jetzt kann er ruhig regnen, der trübe Himmel. Und ich denke: nein – einen Kanarienvogel habe ich wirklich nicht nötig.


Für die Abdruckgenehmigung des Textes danken wir dem Autor.