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Wilde Feste am Friesenplatz

Sabine Schiffner erinnert sich

Als ich meine Wohnung am Hohenzollernring 60 im Mai 1986 zum ersten Mal betrat, sah ich aus dem Fenster und dachte: Ja, so möchtest du in Köln wohnen: Denn ich konnte von hier aus in der Ferne den Dom sehen! Damals fuhr unten auf den Ringen die Straßenbahn noch oberirdisch. Die Bauarbeiten für die U-Bahn hatten aber schon begonnen und kleine Bäume wurden auf den Ringen gepflanzt. Noch drängten sich aber die Prostituierten im Hauseingang, wenn wir nachts nach Hause kamen, nachdem wir in einer der Bhagwandiscos getanzt hatten, im ›Pink Champagne‹ getrunken und anschließend bei WurstWilly oder im Wienerwald schräg gegenüber gespeist, denn diese beiden hatten bis vier Uhr morgens auf.

Sabine Schiffner in ihrer Wohnung am Hohenzollernring, um 1985 © Sabine Schiffner

Der Friesenplatz war auf unserer, der Neustadtseite, Teil des Rotlichtbezirks und auf der anderen Seite von rotgekleideten Bhagwananhängern besiedelt, die sich an schönen Tagen in Scharen draußen trafen. In unserem Haus, das einen Fahrstuhl hatte, der seit 1945 nicht mehr in Betrieb war, der aber nach einem Jahr zu unserer Freude wieder instandgesetzt wurde, gab es nur fünf Wohnungen. Der Rest des Hauses wurde vom Rexkino eingenommen, weshalb wir, wenn wir unsere Adresse angeben mussten, nur zu sagen brauchten: Wir wohnen über dem Rexkino. Über uns wohnte Frau Gmylkowski, geborene Johannsen, die Kassiererin vom Kino, die immer unten in ihrer Kassiererinnenkasse saß und vor der ich ein wenig Angst hatte, weil sie so schick geschminkt und gestylt war, künstliche Wimpern und Haare trug und so viel redete. Wenn sie manchmal von ihrer Dachterrasse herunterguckte, erkannte ich sie nicht wieder, weil sie zu Hause keine Perücke trug, dann sah sie auf einmal uralt aus. Hinter dem Haus waren lange Flachdächer, die sich bis zum Friesenwall zogen und die zum Kino gehörten. Manchmal stieg Herr B., der Verwalter des Kinos, der immer Scherze machte, wenn er mich sah, Scherze allerdings, die ich nie verstand, aus einer Luke dieses Daches und ging dann auf den Stegen über den Dächern spazieren. Er war sehr klein und trug einen Bart und auch vor ihm hatte ich Respekt. Wenn er aus der Luke kletterte, sah er aus wie Rumpelstilzchen, darüber musste ich dann immer sehr lachen.

Unser Haus, das zu betreten immer auch eine olfaktorische Freude war, weil der Duft des süßen Popcorns beharrlich im ansonsten eher heruntergekommenen Treppenhaus zu riechen war, hielt ich seines Aussehens wegen für ein Nachkriegshaus. Später las ich in einem Buch über Architektur in Köln, das es eines der zwei ältesten Häuser am Neustadtring zwischen Friesenplatz und Rudolfplatz ist und aus den 1880er Jahren stammt. Davon ist aber rein äußerlich nichts mehr zu sehen. In diesem Haus also, das wenig Charme hatte, aber von dem aus man so phantastisch über Kölns Dächer hinweggucken und bis zum Dom sehen konnte, richteten meine Freundin und Mitbewohnerin Berit B. Böhm und ich uns auf 60qm mit Durchgangszimmer und winzigem Bad einen künstlerischen Elfenbeinturm ein, in dem wir literarische und musikalische Salons abhielten und wilde Feste feierten, bei denen manches Mal die Polizei für abschließende Ordnung sorgen musste. Hier trafen sich angehende Schauspieler, Sänger, Komponisten, Philosophen, Filmemacher, sehr viele Künstler und Schriftsteller, Drogenabhängige, Obdachlose, Lebenskünstler und manchmal auch ganz normale Mitstudenten. Hier redeten wir über Gott und die Welt, hängten verrückte Bilder auf, sorgten für gehörig Unordnung, sammelten alles was wir in die Hände bekamen und machten avantgardistische Performances. Hier schrieb und hier las ich meine ersten guten Gedichte. Hier lebte ich zehn Jahre. Als die Bäume vor der Tür schon fast bis zu meinem Fenster im 3. Stock hochgewachsen waren, wurde ich mit meinem Sohn schwanger und zog nach Braunsfeld, von wo aus ich den Dom nicht mehr sehen konnte, aber dafür in einen riesigen verwunschenen Garten blickte.

 – © Sabine Schiffner, 2021


In den Gedichten schreibschreib und orangenmarmelade, die in den 1980er Jahren entstanden, beschreibt Sabine Schiffner atmosphärisch verdichtet die Zeit am Friesenplatz.