
Hat sich mir eben noch die Brücke in ihrer ganzen, von Ufer zu Ufer gespannten Breite gezeigt, gerate ich nun, mich ihr auf der Dammkrone nähernd, mehr und mehr in ihren Einzugsbereich, und sie wird zu einem Bauwerk aus Eisen und Nieten, das seinen eigenen Wind erzeugt und seine Gegenwart ins Räumliche entfaltet. Steil und steiler ragt der Pfeiler empor, bis die Brückenfahrbahn ihn meinem Blick entzieht und ich einen überdachten Raum, oder ist es eine Zone?, betrete. Dort, unter der Fahrbahn, endet der Hafendamm in einer aus Basaltsteinen gemauerten, von zwei Absätzen durchzogenen, schräg zum Wasser hin abfallenden, mächtigen Rundung. Ist der Fluss, von der Mitte der Brücke aus betrachtet, scheinbar ohne Ufer, so tun sich hier unten Zwischenräume, Zwischenwasser auf, das strömende, Wellen schlagende des Flusses und das von Damm und senkrecht abfallender Ufermauer eingefasste, stehende der Hafeneinfahrt. Dazwischen, am Ende der Dammkrone, eine von einem Eisenring mit der Jahreszahl 1904 markierte Stelle, eine Art Aussichtsplatz, von dem man die Kirche Groß St. Martin vor der Apsis des Doms aufragen sieht, so, dass es den Anschein hat, als seien Romanik und Gotik eine Fusion eingegangen. Und doch will die Aussicht auf das linksrheinische Stadtpanorama nicht so recht in Gang kommen, zu schwer wiegt der Verlust des Himmels, zu stark nimmt die Brückenunterseite den Blick in Beschlag, dieses breite, stählerne, grüne Band, das sich über den Fluss hinweg zum anderen Ufer perspektivisch verjüngt, sichtbar gegliedert und verstärkt von den beidseitigen Hohlraumkästen und den querliegenden Versteifungsträgern, zusammen eine Kette von Gefachen bildend, und von einem nicht mehr als einen Steinwurf entfernten, breitbeinig dastehenden, A-förmigen Pfeiler getragen.
Und dann schält sich aus dem Hintergrundsummen der Stadt ein dunkles Geräusch, vom jenseitigen Ufer kommt es, wird lauter, verliert vorübergehend in Höhe der Flussmitte an Kraft, nimmt dann an Lautstärke wieder zu, die Brücke, ja, die Brücke wird lauter, die Brücke ist das Geräusch, ihr entspringt es und sie führt es, geschient von den beidseitigen Hohlraumkästen entlang ihrer Unterseite, es rollt auf das rechtsrheinische Ufer zu, schon hat es den Brückenpfeiler erreicht, verwandelt jäh den Raum unter der Fahrbahn in einen Resonanzkörper, taucht ihn in gleißende Helle, rollt wie Meeresbrandung auf die nahe rechtsrheinische Küste zu, um dann von der Brückenrampe jenseits der Uferstraße verschluckt zu werden, im Schlepptau die Stille der leisen Geräusche und der stummen Bilder: Spaziergänger, Radfahrer, Dauerläufer, eine Frau, die unermüdlich einen Hulahoop-Reifen um ihre Taille kreisen lässt; ein Angler, der auf dem zweiten Absatz knapp über der Wasserlinie wieder und wieder seine Angel auswirft; ein schräg aus der Hafeneinfahrt ragender Holzpfosten, Überrest des letzten Hochwassers?; ein flussaufwärts fahrendes Schiff, dessen Ladung – mehrere, spitz zulaufende Kohlenberge – über den Sockel des Brückenpfeilers hinausragen; das leere Hafenbecken, aus dem Verlassenheit herüber weht; ein Kormoran, der abtaucht, lange nicht wieder an die Oberfläche kommt, und dann ganz woanders als erwartet; ein dunkles Rumoren, das mit einem Mal zwischen Brückenrampe und Brücke aufgesprungen ist, vom rechtsrheinischen Ufer kommt es rasch näher, flutet überfallartig die Luft, fächert sich auf, wird heller und lauter, erreicht seinen Zenit über dem Aussichtsplatz, rollt dann, Gefach um Gefach an Kraft verlierend, die Brücke entlang zum anderen Ufer und verschwindet im allgemeinen Hintergrundsummen der Stadt, in der Stille der leisen Geräusche und der stummen Bilder, in der ein Kajak flussabwärts gleitet; ein Polizeiboot auf den Scheitelpunkt des Hafendamms zuhält; zwei Gänse, in der Hafeneinfahrt landend, einen weißen Strich durch die Verlassenheit ziehen; das Flusswasser wellenschlagend die Wand des Pfeilersockels entlang strömt und nur wenige Meter von ihm entfernt kreisförmige glatte Zonen auf der Oberfläche hinterlässt; der Angler seine Ausrüstung zusammenpackt und die Dammschräge herauf kommt. Haben Sie etwas gefangen? Nein. Ist das eine gute Stelle da unten? Normalerweise ja. Da, wo stehendes und fließendes Wasser zusammentreffen, ist es immer gut, aber heute nicht. Achselzuckend geht er weiter, und die Sonne kommt hinter einer Wolke hervor und da liegt etwas dunkles auf dem Wasser, ein dunkler Streifen, ein Schatten, der Schatten des Brückenpfeilers, und auch der der Fahrbahn, ein breites dunkles Band, an dessen scharf gezogener Kante das sonnendurchstrahlte Wasser hell aufleuchtet, jetzt sind die dunklen Striche der Tragseile ebenfalls zu erkennen, und aus dem städtischen Hintergrundsummen schält sich ein Geräusch, von weit her, vom jenseitigen Ufer senkt sich aus der Luft herab, wird lauter, verliert vorübergehend über der Flussmitte an Kraft, nur um nach einigen Metern wieder zuzunehmen: die Brücke wird lauter, die Brücke ist das Geräusch – nein, sie ist es nicht –, es fließt von Gefach zu Gefach, von Becken zu Becken, nur schneller, viel schneller als Wasser strömt es heran – nein, die Brücke…, stumm spannt sie sich über den Fluss –, dringt aus allen Nieten, rollt durch die Hohlkästen – es muss der Brücke entspringen, keine andere Geräuschquelle weit und breit –, doch die Brücke schweigt, lässt sich kein Geräusch mehr andichten, wie aus Stein gehauen liegt sie da, und schlagartig trennen sich Auge und Ohr: sekundenlang schwebt das Geräusch ursprungslos über den Fluss hinweg, so, als käme es aus einer Vielzahl kleiner Lautsprecher, die längs der Unterseite der Brücke unsichtbar angebracht sind, und dann, im letzten Viertel des Flusses, gesellt sich ihm, gleichsam eine neue Herkunft bereithaltend, ein langgestreckter, auf der Kante des Fahrbahnschattens dahin gleitender, von einer Reihe rechteckiger Löcher durchzogener Schatten hinzu, sogleich gehen Ohr und Auge wieder ihre gewohnte Verbindung ein, und der Brückenkörper, den die beiden Sinne in trotziger Allianz nicht aufhörten als Geräuschquelle auszumachen, ist endgültig aus dem Spiel.
Für die Abdruckgenehmigung des bislang unpublizierten Textes danken wir dem Autor.