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Von Köln nach Boston

1965 erhielt Heinrich Böll eine Anfrage von der Universität in Boston, in der man großes Interesse an nicht mehr benötigten Manuskripte und Arbeitsunterlagen des Schriftstellers bekundete, die, insofern Böll dem Wunsch nachkäme, in Boston durch amerikanische Germanisten aufgearbeitet und verzeichnet werden könnten. Diese ungewöhnliche Vorgehensweise hing mit dem Engagement Howard Bernard Gotliebs (1926–2005) zusammen. Als Historiker ausgebildet, wurde er 1963 von der Universität Boston angeworben, um dort eine Spezialsammlung aufzubauen. Gotlieb, der kein Budget für den Kauf von Archivalien hatte, wurde beauftragt, Akten von Personen aus den Bereichen Literatur, Theater, Musik, Film und Politik zu sammeln, deren Arbeit im 20. Jahrhundert die öffentliche Meinung beeinflusste und von dauerhafter Qualität war.

Um die Sammlungen zu bereichern agierte Gotlieb auch auf internationalem Terrain. »I started collecting Heinrich Boll before he was translated into English from the German«, bemerkte er 1983 rückblickend in einem Interview in der »Los Angeles Times«. Gotliebs Anfrage bei Böll war demzufolge erfolgreich, im Februar 1966 stellte der Autor seine Archivalien der Universität Boston als Leihgabe auf unbestimmte Zeit zur Verfügung. Im Rahmen einer Vortrags-Reise durch die USA machte Böll auch in Boston Station und besichtigtet bei einem Treffen mit Howard Gotlieb die Unterbringung seines Archivs, das sich im fünften Stock der »Mugar Memorial Library« befand. Anlässlich seines 40-jährigen Bestehens im Oktober 2003  wurde das Archivzentrum in »Howard Gotlieb Archival Research Center« umbenannt.

Auf die Frage, ob Böll sich so ohne weiteres von seinem Archivgut habe trennen können, antwortete er später:

»Ich trenne mich von jeder Arbeit, sobald sie geschrieben ist, sofort. Und es war für mich kein Schmerz oder Wehmut damit verbunden. Es hatte auch einen praktischen Grund. Also der wichtigste ist, daß mich das gar nicht mehr interessiert, weil ich immer schon mit der nächsten Arbeit beschäftigt bin. […] Das war alles in Kartons und alten Schränken ungeordnet, wir haben’s auch ungeordnet eingepackt, und ich dachte: Mein Gott, die werden da schon Ordnung reinbringen.«

Heinrich Böll: Interview mit Robert Stauffer, 1983

Fast zehn Jahre nach Abgabe der Materialien, drangen diese Umstände 1974 durch den Artikel Ein Dichter muß erst tot sein… in der Zeitschrift »neues rheinland« erstmals in die Öffentlichkeit. Der Verfasser Hans Rudolf Hartung (1929–2012) verwies auf Bölls Renommee (»Man schmückt sich mit seinem Ruhm, man zeigt ihn vor, wenn Gäste kommen«) und kritisierte, dass sich um Bölls literarisches Werk im eigenen Land niemand kümmere: »Was es von seiner Hand an Originalem gibt, geht seit Jahren nach Amerika. Manuskripte, Notizen, Briefe – alles kassiert die Universität zu Boston. Dort tut man heute das, was man bei uns in fünfzig Jahren tun wird: man sammelt und sichert Bölls Werk als ein ›Kulturdenkmal‹ unserer Zeit.« Hartungs Artikel führte unmittelbar nach seinem Erscheinen im Landtag von Nordrhein-Westfalen zu einer ›Kleinen Anfrage‹ des CDU-Abgeordneten Petermann über den »Nachlaß nordrhein-westfälischer Dichter und Schriftsteller«.

Im April 1978 informierte der Direktor der Kölner Stadtbibliothek Horst-Johannes Tümmers Böll über den Aufbau eines Literaturarchivs und bat ihn um Kooperation. Mit der Fertigstellung der Zentralbibliothek am Neumarkt erhoffe man sich ferner bessere Möglichkeiten, um Kölner Autoren und Autorinnen bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Es folgten daraufhin verschiedene Treffen und Gespräche zu diesem Thema, wie aus der Korrespondenz hervorgeht. Böll entschied sich letztendlich dafür, seine Archivalien von Boston nach Deutschland zurückzuführen, um sie, falls von Kölner Seite Interesse bestünde, in die Obhut der Stadt zu übergeben.

In einem Brief vom 16. Oktober 1980 bedankte sich Böll bei Howard Gotlieb für dessen Entgegenkommen und Bereitschaft, der Stadt Köln sein Archiv überlassen zu haben: »Es wird nun hier ergänzt durch sehr Vieles, was in den letzten Jahren angefallen ist. Gewiß verstehen Sie, daß ich letzten Endes doch meiner Vaterstadt dies Archiv übergeben wollte. Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Aufmerksamkeit, die Sie dem gesamten Material gewidmet haben«. Mit der Eröffnung der Kölner Zentralbibliothek und der Einrichtung des Heinrich-Böll-Archivs fanden Bölls Arbeitsmaterialien wieder ein neues Zuhause. 1984 erfolgte schließlich der Ankauf des Archivs durch die Stadt Köln.