
Er, der da sitzt, ist nicht in ein Buch vertieft, schmökert nicht, nein, er schaut ins Weite, vielleicht mit einem Wort auf den Lippen nur, welches er soeben las, mit einer Erkenntnis, die er durch die Lektüre nachsinnend gewann oder mit einem Gedankengang, der sich erst in der Ferne erschließt, wer weiß. Doch gewiss ist eines: Er denkt besonnen und ruhig; kein Hellseher, aber ein heller Kopf. Der geistige Horizont ist ihm auf jeden Fall näher als der eigene Tellerrand. Seine Augen sind geöffnet, weit geöffnet. Sein Haupt seitwärts gewandt, der Blick geradeaus. Er trägt Sandalen, einfachstes Schuhwerk ohne Socken, und einen Umhang, nicht wallend und wehend, schnörkellose Reduktion. Alles konzentriert sich. Nichts schweift ab. Auch seine Frisur ist weder wüst noch wild. »Akkurat« scheint das rechte Wort für seinen Haarschnitt zu sein, der den Nacken nicht bedeckt, die Ohren frei. Die Nase eher spitz, von Hochnäsigkeit keine Spur. Er sitzt auf einem Hocker mit rechteckig wuchtigen Beinen, Wanken und Wackeln unwahrscheinlich.
Seit 1956 sitzt er da, leicht vornüber geneigt. Den Mann, auf den die Gründung der Kölner Universität im Jahre 1388 zurückgeht, hier sehen wir ihn: den Kirchenlehrer Albertus Magnus (um 1200–1280), den der Bildhauer Gerhard Marcks (1889–1981) eindrucksvoll schuf. Die Bronzestatue misst eine Höhe von 270 cm, auf einem Steinsockel platziert. Schon von weitem erkennt man, dass ein aufgeschlagenes Buch, ein Foliant, im Schoß des Gelehrten liegt. Mit seiner rechten Hand hält er einen Finger zwischen zwei Seiten wie ein Lesezeichen für die nächste zum Weiterlesen – ein geistiges Innehalten vor dem Umblättern; entspannt liegt der Arm auf seinem Oberschenkel. Anders der linke Arm. Der Ellenbogen ist aufgestützt, die Hand unverkrampft. Daumen und Zeigefinger berühren sich, als gäbe es etwas Feinsinniges taktil zu erspüren. Sein ovales Gesicht ist bis auf drei gerundete Stirnfalten glatt, der schmale Mund geschlossen.
Er schweigt, und ich frage mich, was er, der Denker, sagen würde, wenn er heute lebte: ein Denkmal ohne Mundschutz am Eingang der Universität zu Köln.
Köln im April 2020
Literatur: Rönneper: Corona. Siehe auch »Baudriplatz«
Für die Abdruckgenehmigung des Textes danken wir dem Autor.