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Radtour zum Rhein oder der Weg zur Schriftstellerei

Ein Gastbeitrag von Petra Reategui

Es war ein strahlender Herbsttag, als ich vor vielen Jahren mein Fahrrad aus dem Keller holte und einen Ausflug zum Rhein machte. Hätte mir an diesem Morgen jemand gesagt, dass ich danach Bücher schreiben würde, hätte ich sie oder ihn für verrückt erklärt; ich war Journalistin und hatte nicht die geringste Absicht, meinen Beruf zu wechseln. Doch genau das geschah. Natürlich nicht sofort, es dauerte. Dass sich etwas änderte, merkte ich daran, dass es in meinem Kopf zu arbeiten und zu brodeln begann, und eines Tages tippte ich wagemutig die ersten Sätze eines Romans in den PC. Schuld daran war ein Wegekreuz.

Wegekreuz zum Andenken an Johann Stemmeler © Foto: Petra Reategui

Aber der Reihe nach: An besagtem Herbsttag radelte ich also von Köln kommend die Rodenkirchener Riviera entlang, vorbei an Wassersportclubs, Campern und Ausflüglern, hinein in den Weißer Bogen. Beinahe hätte ich das kleine Kreuz mit den barock-anmutenden geschwungenen Steinkanten übersehen, so versteckt stand es zwischen Sträuchern und hohem Gras am Rande des Wegs. Wahrscheinlich hielt ich überhaupt nur an, weil mir im letzten Moment die ungewöhnlich lange Inschrift auf dem Stein aufgefallen war. Neugierig entzifferte ich die eingemeißelten Wörter:

ANNO 1758 DEN 6TEN FEBRUARŸ WURDE

IOAN STEMMELER VON BRUEL ERMORDET

R • I • P

Trotz helllichten Tags wurde mir unheimlich. Doch dann ließ mich Ioan Stemmeler nicht mehr los; mein journalistisches Interesse erwachte.

Wer war der Mann? Was war passiert? Wer hat ihm das Kreuz gesetzt? Ich fing zu recherchieren an. Kölner Stadtverwaltung, Amt für Denkmalschutz, Historisches Archiv, Brühler Stadtarchiv, Bibliotheken – das Ergebnis war bescheiden, aber wenigstens wusste ich danach, dass Johann Stemmeler der Sohn eines Brühler Stadtmüllers und bei seinem Tod 21 Jahre alt gewesen war. Zur Mordsache selbst fand ich nichts. Bis ich schließlich auf die geniale Idee kam, die Polizei anzurufen. Nein, nicht den Notruf! Die Pressestelle.

»Entschuldigen Sie, ich ermittle in einem Mordfall. Wer kann mir Auskunft geben?« Vorsichtshalber fügte ich hinzu, dass besagte Tat mehr als zweihundert Jahre zurückliege.

Die Pressestelle der Kölner Polizei scheint jeden Tag dergleichen Anfragen zu bekommen, denn die Stimme des freundlichen Mannes am anderen Ende der Leitung verriet keinerlei Verwunderung, die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Wenden Sie sich ans Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf, Akte Kurköln. Viel Erfolg.«

Ausschnitt aus der Prozessakte zum Mordfall Johann Stemmeler. LAV NRW R Kurköln III Nr. 255, Blatt 386

Und tatsächlich! In einer dicken, nach abgestandenem Staub riechenden Akte aus dem 18. Jahrhundert, die ein Mitarbeiter des Archivs mir in den Lesesaal bringt, entdecke ich nach geduldigem Blättern ein Schriftstück mit dem Namen »meines« Toten. Sehr viel mehr kann ich nicht lesen, das Dokument ist in der alten deutschen Kurrentschrift verfasst, doch ich lasse mich nicht entmutigen. Ich bitte um ein Faksimile der Archivalien und brüte danach Abend für Abend über dem Text, um ihn in unsere heutige lateinische Schrift zu transkribieren. Auf sechzehn Seiten erhalte ich nun von dem nicht genannten Verfasser, offenbar ein Jurist, Einblick in das, was geschehen ist, dazu seine Ansicht zu dem Fall. Bald schon fühle ich mich zurückversetzt in die engen Gassen und schummrigen Wirtshäuser des barocken Brühl, rieche Pferdemist und Tabakrauch, atme den Mehlstaub der Stemmeler’schen Mühle ein und friere in der winterkalten Luft, die in der Nacht des 6. Februars 1758 aus den Auwäldern am Rhein emporsteigt. Nur wenige Tage später wird der Fluss zugefroren sein.

Als ich den letzten Satz in den Computer getippt und meine Abschrift gespeichert habe, köpfe ich eine Flasche Schampus und beschließe, Johann Stemmeler in einem Buch auferstehen zu lassen.

Nachwort: Es blieb nicht bei diesem einen historischen Kriminalroman über das Verbrechen an dem Brühler Müllersohn. Weitere Bücher folgten, und neue Themen spuken mir im Kopf herum. Meistens sind es Wegekreuze, Gedenkorte, Archivvermerke oder menschliche Schicksale und Ereignisse, die meine Aufmerksamkeit erregen und mich packen. Dann fange ich wieder zu recherchieren an …

– Petra Reategui

Quellen
  • Petra Reategui: Falkenlust. Historischer Kriminalroman. Köln 2006.
  • Christa Zingsheim: Wegkreuze und Bildstöcke in Köln. Köln 1981.
  • Akten zum Mordfall Johann Stemmeler, LAV NRW Kurköln III, Protokolle 143A, 143B, 255, Blatt 368-394.